Friedhof der Sowjetskulpturen
Am nächsten Morgen stehe ich schon früh im Waschhaus vorm Spiegel und schminke mich. Nach dem Sinn fragt man besser nicht, weil das Meiste davon in ein paar Minuten innen an meinem Helm kleben wird, trotzdem starte ich nie ohne Make-up, so wie ich auch nicht in Jeans ins Theater gehen würde. Wir wären allerdings schneller fertig, wenn Pieps nicht ausgerechnet heute auch ihre Wimpern "bööhsden" wollte.
Tanken muss ich nicht, ich will nur frühstücken. An der Kasse bestelle ich Hotdogs und Kaffee. Die Bedienung kommt ungefragt hinter dem Tresen hervor und drückt für mich Kaffee mit Milch aus dem Automaten, weil ich die Beschriftung auf dem Display nicht lesen kann. Die sind wirklich sehr hilfsbereit, die Litauer.
STATOIL hat es tatsächlich geschafft, ihr Prinzip eins zu eins nach Litauen zu verfrachten: Der Kaffee ist erstklassig, jede Tasse frisch gemahlen und gebrüht. Die Maschinen müssen ein Vermögen kosten. Allein die Bratwürste sind weniger gut, als ich sie in Erinnerung hatte. Dafür kosten sie nur ein Viertel dessen, was ich in in Setermoen bezahlt habe, als ich mich auf dem Weg zum Nordkap völlig erledigt in eine STATOIL Station gerettet habe.
Auf den Grutas Park bin ich besonders gespannt. Er wird auch Friedhof der Sowjetskulpturen genannt und das erklärt schon ziemlich genau die Idee dahinter. Nach dem Zerfall der UdSSR wurden sämtliche Denkmäler aus der Zeit der sowjetischen Besatzung abgerissen und entsorgt. Viele pompöse Statuen von geradezu grotesker Größe, die auf den besten Plätzen der Innenstädte standen.
Der litauische Pilzekönig Viliumas Malinauskas hat später sämtliche Lenins, Stalins, Marxe und Chruschtschows ausfindig gemacht und sie in einem Kiefernwald in der Nähe von Druskininkai wieder aufgestellt. Dort stehen sie nun in dem originalgetreuen Nachbau eines Gulags, eines sowjetischen Strafgefangenenlagers, komplett mit Wachtürmen, Stacheldraht und Suchscheinwerfern. Und damit sie nicht allein sind, leisten ihnen die Skulpturen unzähliger Jungkommunisten, Oktoberrevolutionäre, und Helden der Arbeit Gesellschaft.
Zum Ausgang hin gibt es mehrere Ausstellungsräume voller interessanter Dinge, doch leider gibt es die erläuternden Texte nur auf Litauisch und auf Russisch. Ganz selten sind englische Texte eingestreut.
Auf dem Parkplatz treffen gerade die ersten Reisebusse ein. Wie gut, dass ich schon früh hier war, denn ab jetzt kriegt man kein Foto mehr hin, auf dem nicht ein halbes Dutzend fröhlicher Chinesen mit Selfie Sticks zu sehen sind.
Die Straße von Druskininkai nach Trakai verläuft wie gewohnt schnurgerade auf perfektem Asphalt. Langweilig, aber bequem zu fahren. Ich halte die KLX bei 100 im 6. Gang und hänge meinen Gedanken nach. Was ist bis jetzt mein Eindruck von Litauen? Es ist ein sicheres und kultiviertes Reiseland mit vielen Sehenswürdigkeiten, aber sogar Wikipedia bezeichnet das Baltikum als eine waldreiche, von Dünen und Moränen geprägte Öd-Landschaft.
Eben noch gleite ich auf dem tiefschwarzem Flüsterasphalt dahin und tue nicht mehr, als den Lenker zu halten und nun sitze ich auf einer waschechten Enduro und heize hoch konzentriert über die staubige Piste.
Ich gebe Gas bis ich ein Tempo erwische, das erträglich ist und halte die Maschine dann bei etwa 80 km/h. Fortwährend scanne ich die Piste nach dem besten Track, aber den gibt es nicht: In der Mitte ist es kaum besser und ganz am Rand, mit der Felge am Gras, ist der Sand gefährlich weich.
Endlich erreiche ich Trakai. Die Stadt liegt 28 km westlich von Litauens Hauptstadt Vilnius. Der Ort ist berühmt für seine alte Wasserburg, die auf einer Insel zwischen drei Seen liegt. Wohl jede Litauenreise, ob mit dem Motorrad, oder im klimatisierten Bus mit Reiseleiter, führt auch zur Burg Trakai. Ich bin gespannt, ob sich das lohnt.
Am See ist jeder Meter zugeparkt und die Reisebusse stehen Stoßstange an Stoßstange, wie ein bunt zusammengewürfelter ICE. Ich stelle die Enduro auf einem schraffierten Sperrstreifen ab, wo bereits eine Harley Davidson Road King geparkt ist.
Der Parkautomat lässt sich auf Deutsch umstellen. Ich werfe 2 € ein und soll Greenys Kennzeichen eintippen. Kurz darauf erscheint es gedruckt auf dem Parkschein. Wenn ich schon im Parkverbot stehe, möchte ich wenigstens ein korrektes Ticket vorweisen können.
Der Hof ist voller Reisegruppen, die in verschiedenen Sprachen beschallt werden. Eine junge Litauerin spricht in ruhigen Worten, zeigt hierhin und dorthin. Daneben eine Gruppe aus Italien. Die Reiseleiterin pflastert ihre Leute in stakkatoartigem Italienisch gnadenlos zu. Ich wette, sie schafft die Tour in der halben Zeit.
Als ich zurück zum Motorrad komme, sind die Reisebusse und mit ihnen die Touristen verschwunden. Greeny steht einsam auf ihrem Sperrstreifen und wirkt deplaziert. Zwei Polizisten fahren vorüber, ohne uns eines Blickes zu würdigen.
Ich setze den Helm auf und mache mich auf den Weg. Heute zelte ich auf dem Campingplatz Obuolių sala, zu Deutsch: Apfelinsel. Der Platz liegt auf einer Insel im See und gilt als der schönste Campingplatz Litauens. Für morgen habe ich deshalb einen Jokertag eingeplant.
Die Dörfer wirken umso ärmer, je weiter ich ins Hinterland komme. Und doch ist jedes der bunten Häuser, die für westliche Augen zuerst armselig wirken, bei näherem Hinsehen liebevoll gepflegt und sauber, keines sieht verkommen aus.
Allmählich wird es Zeit, noch etwas fürs Abendessen zu besorgen. Ich möchte zwar in dem Restaurant auf der Apfelinsel essen, aber trotzdem will ich eine Kleinigkeit für den Abend im Zelt kaufen, wenn Pieps und ich im Schlafsack liegen.
Es ist Freitagabend und an der Bushaltestelle stehen Männer mit Plastiktüten voller Flaschen. Sie sehen aus wie Landarbeiter und haben mehr Schwielen an den Händen, als Zähne im Mund. Vermutlich ist es das Einzige, was der Freitagabend in einem so abgelegenen Dorf wie Giedraičiai bietet: Mit seinen Kumpels an der Bushaltestelle stehen und sich betrinken.
Die Männer sehen mich mit ausdruckslosen Gesichtern an, als ich das Motorrad dicht, ganz dicht, am Eingang abstelle. Niemand spricht mich an, aber ein wenig unheimlich ist es schon.
Ein Schild an der Tür weist darauf hin, dass Schusswaffen draußen bleiben müssen, man nicht fotografieren darf, kein Eis essen soll, kein Hund sein darf und nicht auf Rollschuhen, oder mit Zigarette und nur ohne Korb rein darf.
Ich kaufe zwei fette Würste und eine große Dose Švyturio BALTIJOS, ein Starkbier mit dem Namen Leuchtturm des Baltikums. Als ich meinen Einkauf an der Kasse auf den Tresen lege, mustere ich verstohlen die anderen Kunden, die ihrerseits mich mustern.
Die Stimmung im Laden ist merkwürdig gedrückt. Die Kassiererin, eine ältere Frau im blau gestreiften Kittel, nimmt für jeden Kunden einen anderen Zettel aus der Kasse und macht darauf eine Eintragung. Darüber viele durchgestrichene Zeilen und ein paar offene. Geld fließt nicht. Ich bin die Einzige, die ihren Einkauf bar bezahlt und 2,39 EUR abgezählt auf den Tresen legt. Selten ist mir so bewusst geworden, wie gut es mir geht.
Ich packe meinen Kram zusammen und verstaue ihn draußen im Tankrucksack. Die Männer an der Bushaltestelle sehen mich dumpf an, als ich an ihnen vorbeifahre.
Der Weg zur Apfelinsel führt auf Sandwegen durch eine Moränenlandschaft und zum ersten Mal finde ich Litauen schön. Die Landschaft erinnert ganz stark an Masuren und dort hat es mir sehr gut gefallen.
"I would like to stay for two nights. Just me, a small tent and a motorbike." Pieps erwähne ich mit keinem Wort.
"That's not possible. Sorry, but we are fully booked for the weekend."
Ich bin enttäuscht, weil ich mich so auf Camp Apfelinsel gefreut habe, aber die Frau empfielt mir ein anderes Camp. Ungefragt nimmt sie das Telefon und reserviert einen Platz für mich. Kurz darauf düse ich mit Power zurück über die Holzbrücke und weiter nach Osten.
Im Schnelldurchgang eile ich durch den Laden und kaufe einen fertigen Schweinebraten, ein Stück Käse und eine Flasche Wein. Ich habe es eilig, denn es ist spät und wird außerdem bald regnen.
Auf der Apfelinsel habe ich eine Karte mit den Koordinaten des Campingplatzes bekommen. Ich tippe die Daten sorgfältig in mein GPS-Gerät und drücke auf Go!
Vier Kilometer hinter Moletai biege ich auf einen Forstweg ab. Die Bäume stehen dicht am Weg und das Laubdach lässt nur wenig Licht bis zum Boden durch. Im zweiten Gang fahre ich auf dem Sandweg durch den düsteren Wald. Und hier soll ein Campingplatz sein?
Endlich ein Hinweis auf den Campingplatz: Ein weißes Zelt auf blauem Grund. Ein Pfeil zeigt den Weg. Der Wald rückt noch enger an die Fahrspur und kleine Zweige klatschen gegen die Ärmel der Endurojacke. Für Wohnmobile dürfte es eng werden, aber für die Enduro ist der Forstweg kein Problem.
Ich bin beinahe überrascht, als ich schließlich doch vor dem schmucken, rotweißen Empfangsgebäude des Campingplatzes stehe. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich nicht mehr damit gerechnet. Erleichtert steige ich vom Motorrad und gehe hinein.
Mindūnai Camping liegt in einem Pinienwald am Ufer des Lakajai Sees. Das Gelände ist erstaunlich weitläufig und es ist schwer zu erkennen, wo das Camp endet. Der Wald fällt zum See hin ab und es dauert lange, bis ich eine halbwegs ebene Stelle für mein Zelt gefunden habe.
Der Regen lässt bald nach und ich gehe hinauf zu dem Holzhaus, wo auch die Camper Kitchen untergebracht ist, ein großer Raum mit Tischen, Stühlen und einer nagelneuen Einbauküche, die dem, was ich zuhause habe, um Jahrzehnte voraus ist.
Die junge Frau im gelben Shirt sitzt vor einer Tasse Kaffee und tippt auf ihrem iPhone. Sie lädt mich auf einen Kaffee ein und stellt Gebäck auf den Tisch. Ein merkwürdiger Kuchen, der an einen zu groß geratenen, zerbrochenen Keks erinnert. Es ist ein Šakotis, eine litauische Spezialität. Auf ein Kilo Mehl werden bis zu 50 Eier verwendet.
Wir kommen ins Gespräch und Elena berichtet, dass sie Management Business an der Universität in Vilnius studiert. Das Camp gehört ihrem Vater und den Platz zu leiten ist nicht bloß ein Sommerjob, sondern ein gutes Praktikum für ihr Studium.
Ich erzähle, dass ich Polizistin bin und erfahre, dass ihr Freund ebenfalls bei der Polizei ist. Er ist gerade mit dem zweijährigen Studium fertig geworden und verdient nun 420 €.
"In der Woche?"
"Nein, im Monat", erwidert Elena.
Der Beruf des Polizisten ist kein begehrter und angesehener Job in Litauen, weil er schlecht bezahlt wird und gefährlich ist. Jetzt erscheinen mir die Preise hier nicht mehr so paradiesisch günstig, wie zuvor. Vieles kostet dasselbe wie in Deutschland.
Wir unterhalten uns, trinken Kaffee und essen Šakotis. Im Hintergrund läuft ein Fernseher. Elenas Vater kommt herein und setzt sich zu uns, ein schweigsamer, alter Mann, obwohl er vielleicht nicht älter ist als ich. Heute wird die Fußball Europameisterschaft in Frankreich eröffnet und ich weiß, dass Männer sich für sowas interessieren. Ich lenke das Gespräch darauf, aber ihr Vater hat nie von dieser EM gehört und auch Elena zuckt verständnislos mit den Schultern. Was soll das sein?
Innerlich muss ich lächeln, denn es rückt den Wertehorizont wieder gerade. Mir persönlich ist diese Europameisterschaft piepenhagen, allein die Medien machen einen Riesenhype darum, doch hier im Osten Litauens, tief im Wald, ist die EM weit weg.
Später im Zelt decke ich das Abendbrot für Pieps und mich. Claudie hat mir zu Weihnachten eine Tischdecke genäht, die mit ihren rotweißen Karos so hübsch nach Picknick aussieht, dass man schon Appetit bekommt, wenn man sie nur sieht.
Zum Abschluss gibt es Käse und Rotwein. Ich liege im Schlafsack und überdenke meine Planung. Morgen hatte ich einen Jokertag eingeplant, aber das galt für die Apfelinsel. Hier ist es zu öde, um einen weiteren Tag zu verbringen. Morgen früh fahren wir weiter. Ich trinke den letzten Schluck Wein und lege mich aufs Kissen. Gute Nacht, Welt.
zum nächsten Tag...
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Der Grutas Park bei Druskininkai und die Wasserburg Trakai sind zwei der wirklich lohnenden Reiseziele in Litauen. Mir haben beide sehr gut gefallen, es gab eine Menge zu bestaunen und zu fotografieren.