Auf nach Fårö
Es ist stockfinster im Zelt, als ich mitten in der Nacht aufwache, weil mir furchtbar heiß ist. Leicht beklommen horche ich in mich hinein. Werde ich etwa krank? Grummelt da etwas, ist mir schlecht? Nein, mir geht es gut, es ist nur viel wärmer geworden. Ich zerre die Fleecedecke aus dem Schlafsack und pfeffere sie irgendwo ins dunkle Zelt. Kurz darauf bin ich wieder fest eingeschlafen.
Es ist das perfekte Wetter für meine Rundreise durch den Norden und für einen Abstecher mit der Fähre nach Fårö. Dort will ich mir die Raukar anzusehen, diese verrückten Steinsäulen, die an vielen Stränden stehen und so etwas wie das Wahrzeichen Gotlands sind.
Auf dem Rückweg vom Waschhaus stelle ich beiläufig fest, dass die Rezeption weiterhin geschlossen ist, begrüße die polnischen Arbeiter, die mit dem Sägen von Brettern beschäftigt sind, "Guten Morgen, Jungs", und beeile mich, endlich los zu kommen.
An vielen Stellen kommt der felsige Boden der Insel zum Vorschein und ich fahre im Stehen über die weißen Kalksteinplatten. Das entlastet Mensch und Maschine und ich kann besser vorausschauen.
Eine tolle Strecke zum Endurowandern. Es macht so einen Spaß, durch den Wald zu fahren, auf der Enduro herumzuturnen und den Duft von Waldboden, Harz und Pilzen einzuatmen.
Es fällt mir nur schwer, mich für ein Tempo zu entscheiden. Schnell, weil es Spaß macht, oder verhalten, um möglichst lange etwas davon zu haben? Beides mag ich und so fahre ich einige Abschnitte im MX Stil, bis ich merke, dass der Spaß auf diese Weise viel zu schnell vorbei ist und ich wieder langsamer fahre und mit der Enduro wandere.
Die gesamte Strecke habe ich zu Hause mit Garmin Basecamp geplant und als Track auf das GPS-Gerät übertragen. Als Track deshalb, damit das GPS keine neue Route berechnet, falls ich eine Abzweigung verpasse. Diesen Waldweg hier wäre ich sonst nie gefahren, weil ich die Brennnesseleinfahrt verpasst habe. Das GPS hätte sofort eine Alternative berechnet und ich wäre weiter geradeaus gefahren.
Ich will aber genau HIER entlang fahren und deshalb nutze ich Tracks. Tracks verändern sich nicht und trotzdem kann ich jederzeit einen ungeplanten Abstecher machen und später auf den Track zurückkehren.
Für die Planung einer Strecke lassen sich verschiedene Profile auswählen, z.B. für Auto oder Motorrad, für Radfahrer oder Fußgänger und viele weitere Einstellungen vornehmen, um Autobahnen, Mautstrecken oder Fähren zu vermeiden.
Das vorhandene Motorradprofil habe ich sorgfältig an meine Bedürfnisse angepasst und als neues Profil gespeichert: "Mad Driver on stolen MotoCross Bike giving a Shit for any Rules."
Ich halte viel von sprechenden Dateinamen.
Irgendwann endet die wunderbare Strecke, als wenn nichts gewesen wäre, direkt vor dem schwarzen Asphalt der Landstraße 146. Ich klopfe mir den Staub von den Stollen, biege auf die gut ausgebaute Straße ein und folge ihr mit 90 km/h in Richtung Norden.
Allmählich wird es Zeit zu tanken. In Hammarsviken entdecke ich eine einzelne Zapfsäule, die verloren am Straßenrand steht, die Minimalversion einer Automatentankstelle.
Ich schiebe die VISA-Karte in den Leseschlitz und fast im selben Moment trompetet der Automat mir die deutsche Nationalhymne entgegen. Ich bin total ergriffen und summe leise mit, während ich das Benzin in den Tank laufen lasse. Ich liebe diesen Song.
Die Straße führt nah an der Küste entlang und ein Schild zwischen den Bäumen zeigt hinunter zum Strand: "Vitvikens Café und Camping". Ich stelle das Motorrad auf dem Sandplatz vor der Schranke ab und gehe zu Fuß hinunter zum Café.
Eine junge Frau steht hinterm Tresen, es ist Jane, die Besitzerin des Campingplatzes. In einer Vitrine liegen die leckersten Cremetörtchen, aber nach Süßem ist mir nicht.
"I'd like to have coffee and do you have anything to eat?"
"I could make you a sandwich with chicken curry. Coffee is in the next room, just help yourself."
Während Jane das Sandwich zubereitet, erfahre ich, dass im Sommer bis zu 2.000 Tagesgäste am Strand liegen, auch wenn der Platz jetzt noch verwaist ist. Genau deshalb starte ich schon Ende Mai zu meiner Sommerreise. Dann bin ich schon weg bevor die Touristen und die Mücken eintreffen.
Mit dem Essen gehe ich in den Nebenraum, setze mich ans Fenster und schaue hinüber zum Strand. Der karge Raum ist ganz einfach eingerichtet und strahlt dabei soviel Gemütlichkeit und Wärme aus. Wie machen die Skandinavier das nur?
Ich fühle mich wohl hier und genieße das Sandwich, das sich als ein üppig belegtes Baguette herausstellt. Jedesmal, wenn ich hineinbeiße, quillt gelbe Mayonnaise heraus und tropft irgendwo runter. Welch ein Schweinkram, aber auch so lecker.
Ich frage sie, warum auf der Insel fast alles noch geschlossen sei, immerhin ist heute schon der 29. Mai. Sie erklärt mir, dass die Saison auf Gotland erst zu Midsommer beginne, also um den 20. Juni herum, und Ende August schon wieder vorbei sei. Restaurants, Cafés und Campingplätze schließen dann.
Wir unterhalten uns noch ein wenig, bis ich mich verabschiede und wieder auf den Weg mache. Der nächste Ort heißt Slite und ist nach Visby und Hemse der drittgrößte Ort der Insel.
In Slite steht das größte Zementwerk Europas und der weiße Staub ist überall zu finden. Als hauchdünner Belag bedeckt er Häuser und Straßen. Mein Track führt mich am Zementhafen direkt unter den hohen Fördertürmen der Fabrik hindurch und mit Staunen betrachte ich die große, weiße Anlage.
Die beiden AA Akkus halten fast zwei volle Fahrtage durch und ich habe genügend davon mit und natürlich auch ein Ladegerät. Notfalls könnte ich in jedem Supermarkt Batterien kaufen.
Ich wende und habe den Track gleich wieder im Display. Ich soll auf einen Kiesweg abbiegen, der dicht am Strand entlang führt und einen schönen Blick auf das dunkelblaue Meer bietet.
Etwas zögerlich biege ich in den Weg ein. Darf ich hier langfahren? Ein Verbotsschild kann ich nicht entdecken und der Weg macht auch zu viel Spaß, um irgendwelchen diffusen Zweifeln nachzuhängen.
Ich probiere den anderen Weg, aber der endet schon nach wenigen hundert Metern vor einem Wochenendhaus und ich fahre zurück zur Kreuzung. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass ich den Radweg nur ein kleines Stück zu fahren brauche, bis ich wieder auf die Straße komme. Mit kleiner Drehzahl, leise, unauffällig und mit schlechtem Gewissen biege ich auf den Radweg ein und folge ihm durch den Wald.
Mit dem 'kleinen Stück' habe ich mich ein wenig verschätzt, denn erst nach mehreren Kilometern erreiche ich die Landstraße, aber unterwegs bin ich keinem Menschen begegnet. Ich habe gerade bis in den sechsten Gang hochgeschaltet, als der Track auf dem Display schon wieder in die Pampa zeigt.
Ich will mir Asunden ansehen, eine winzige Insel, die früher vom Militär genutzt wurde, die jetzt aber für jedermann frei ist. Die Piste ist steinig und so schmal, dass Autos sich den Lack zerkratzen würden, aber die hochbeinige KLX ist voll in ihrem Element und fährt sich wie ein Mountainbike mit Hilfsmotor.
"Sackgasse" steht auf dem Schild am Abzweiger nach Asunden, aber das überzeugt mich nicht. Sackgasse ist erst, wenn es nicht weiter geht und ich kann frei aufspielen, was das angeht, denn hier ist sonst niemand.
Der Pfad wird enger und steiniger, Felsplatten ragen aus dem Boden, Zweige kratzen an meiner Jacke, aber es ist ein irrer Fahrspaß, so mag ich Endurowandern. Die Baumreihe zum Strand lichtet sich und gibt den Blick aufs Meer frei. Es ist kaum zu glauben, dass ich in Schweden bin. Solche Strände, die Kiefern und diese Farben hätte ich irgendwo im Süden erwartet, aber nicht hier auf Gotland im hohen Norden.
Voller Übermut lenke ich die Enduro auf den Strand und merke im selben Moment, wie dumm das war. Das Vorderrad bricht sofort durch die dünne Schicht aus Kieselsteinen und die Reifen sinken im weichen Sand tief ein. Mit etwas Mühe baggere ich das Motorrad zurück auf den Weg. Für solche Ausflüge ist der Heidenau K60 Enduroreifen nicht gemacht, auch wenn er für den gemischten Einsatz auf so einer Reise die erste Wahl ist.
Der Pfad holpert weiter steinig die Küste entlang bis zu einem Grillplatz mit derben Holztischen und -bänken. "Naturschutz Reservat" steht auf dem Schild, das den Weg markiert, auf dem ich gekommen bin. Netter Versuch, Jungs, aber ich erkenne eine Endurostrecke, wenn ich sie sehe.
Erst kurz vor Fårösund komme ich wieder auf die Landstraße und es sind nur noch wenige Kilometer bis zur Fähre. Die Insel ist nur durch einen schmalen Sund von Gotland getrennt.
Eine lange Autokolonne wartet schon auf die Überfahrt und ich bin nicht sicher, ob wir alle in einem Rutsch an Bord passen. Brav, wie es meine Art ist, stelle ich mich hinten an und warte. Von der Fähre ist noch nichts zu sehen.
Ein brauner Volvo hält in der Spur neben mir und ein Schwede gibt mir durchs geöffnete Autofenster den Rat, bis ganz nach vorne zu fahren. Motorräder dürfen zuerst an Bord und stehen vorne in der ersten Reihe. Danke, alter Schwede.
Tatsächlich stehe ich kurz darauf mit Greeny vorne im Bug. Erst als kurz darauf die ersten Brecher gegen die Rampe knallen und die Gischt bis zum Lenker hochspritzt, wird mir einiges klar. Ich lasse die Maschine stehen und trete ein paar Meter zurück, aber meine Hose ist schon ziemlich nass. Schweden 1, Svenja 0.
Ob dieser Weg noch legal zu befahren ist? Ich habe meine Zweifel, aber es stand nirgends ein Verbotsschild und Garmin sagt ja und der irrt sich nie, schließlicht guckt das GPS aus dem Weltraum und hat den totalen Überblick.
Der Weg endet vor einer Mauer mit einem Tor. Daran ist eine Sperrholzplatte befestigt, auf der etwas in schwedisch steht, das ich nicht verstehe. Ich stelle den Motor ab und sehe mich um. Es ist so still und friedlich hier und außer dem Summen der Insekten ist kein Laut zu hören.
Was immer auf dem Schild steht, ich muss da durch, denn irgendwo dahinter liegt der Strand mit den Raukar. Ich öffne das Tor, fahre das Motorrad hindurch und schließe es sorgfältig wieder hinter mir.
Ausgerechnet jetzt fällt mir eine Szene aus Wrong Turn ein, einem Meisterwerk der Familienunterhaltung. Woher kommen solche Gedanken bloß immer? Ich schüttele die Beklemmung ab und folge dem Weg. Sicher bin ich hier willkommen.
Endlich erreiche ich die Küstenstraße, die hinaus zur Steilküste nach Digerhuvud führt, dem größten Raukargebiet Gotlands und Fårös.
Ich stelle die Maschine oben an der Straße ab und klettere die Steilküste hinunter. Die kurzen Motorradstiefel sind trittsicher und geben guten Halt. Vom Meer weht eine steife Brise herüber und das Rauschen der Brandung und die Schreie der Seevögel sind die Musik dazu.
Tief aus dem Bauch steigt ein wunderbares Gefühl in mir auf, eine verrückte Mischung aus Glück, Ergriffenheit, jubelnder Begeisterung und dem Stolz darüber, es hierher geschafft und nicht aufgegeben zu haben. (Die Kühe gülden nicht, das war Verantwortungsbewusstsein)
Gotland ist wunderschön und es gibt tolle Wege zum Endurowandern. Soviele Kilometer abseits von Straßen bin ich an einem einzigen Tag lange nicht gefahren, auch wenn es keine anspruchsvolle Strecke war, aber es hat riesigen Spaß gemacht.
Mit meiner 300 km langen Tagestour um den Norden Gotlands habe ich mich bei der Planung deutlich verschätzt. Allein für die ersten 80 km habe ich vier Stunden gebraucht und inzwischen bin ich sieben Stunden unterwegs. Nein, den nordwestlichen Teil werde ich auslassen und viele Kilometer sparen.
Während ich mich auf der Fähre wieder nass spritzen lasse, gebe ich auf dem GPS den Campingplatz ein. Sofort berechnet es mir die beste Route zu meinem Zelt. Es ist schade um den sorgfältig geplanten Track, aber für heute habe ich genug. Leider vergesse ich dabei, dass noch immer der Mad MotoCross Rider aktiv ist, aber das bemerke ich jetzt noch nicht.
Als ich in Fårösund von der Fähre rolle, komme ich kurz danach an einem Supermarkt vorbei. Es ist kein sehr großer Laden, aber ich kann heute nicht wählerisch sein. Umso erstaunter bin ich über die große Auswahl gut abgehangener Entrecotes. Wie Pieps später entdecken wird, kommt das Fleisch aus Irland, oder "Örrland", wie Pieps es ausdrückt. Dazu noch etwas Feta, Bier und Marzipan.
Minuten später heizen wir dicht über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 90 km/h unserem Zelt entgegen, aber irgend etwas mit dem eingestellten GPS Profil stimmt nicht. Ich düse so schön mit 100 der Ostküste entgegen, da zeigt der Track ganz unvermittelt auf einen Waldweg. Ich bremse die Enduro zusammen, schaffe gerade noch die Einfahrt, und folge dem Weg. Bis zum Zeltplatz sind es noch 70 km. Eine Abkürzung vielleicht?
Der Weg endet vor einem rostigen Verbotsschild, das halb im Unterholz versunken ist. Mist! Jetzt noch einmal die ganzen Kilometer bis zur Straße zurückfahren?
Die nächste Stunde erholen Pieps und ich uns im Zelt, schreiben Reisetagebuch, studieren die Landkarte und ruhen uns aus. Im Zelt ist es wirklich wie zu Hause, nur dass da weniger Ameisen sind.
Die Gaskartusche wird heute noch zur Neige gehen, ich habe sie an meinem letzten Tag in Irland gekauft und bloß mitgenommen, um sie endlich leerzumachen. Natürlich habe ich noch eine nagelneue Ersatzkartusche bei mir.
Die Steaks brate ich so, wie ich sie am liebsten mag, well charred. Die Fettaugen schön knusprig und eine leckere Schicht Kohlenstaub an den Rändern.
Gute Nacht, Pieps, gute Nacht Welt. Morgen fahren wir mit dem Schiff zurück aufs Festland, wo uns sicher neue Abenteuer erwarten.
zum nächsten Tag...
zurück nach oben