Im Grenzgebiet
Fast unhörbar drizzelt ein feiner Nieselregen aufs Zelt und als ich mit einem Auge aus dem Schlafsack linse, herrscht trübes Dämmerlicht. Es ist so kuschelig im Bett, dass ich noch keine Lust habe, mich der nassen Welt da draußen zu stellen. Nein, ich drehe mich noch einmal um und schlafe weiter.
Der Regen ist nur schwach, aber die Tröpfchen sind so winzig überall in der Luft, dass ich in voller Regenmontur starte. Mein erster Halt soll die Tankstelle in Malung sein und ich bin einigermaßen verblüfft, als ich feststelle, dass es drei Stück davon in dem kleinen Ort gibt.
Greenys Tank ist noch fast voll, aber die fehlenden 2,5 l fülle ich trotzdem nach, denn jetzt geht es durch das dünn besiedelte Grenzgebiet zu Norwegen und erst in Fredros, etwa 130 km südlich, gibt es wieder eine Zapfstation für Benzin und Kaffee.
Ich bezahle das Benzin und bestelle Kaffee und einen French Hotdog. Der Mann am Tresen nimmt ein Brötchen und spießt es auf einen Dorn. In das entstandene Loch spritzt er etwas Senf und presst eine dünne Bratwurst hinein, fertig.
Ich erinnere mich noch genau, wie empört ich war, als ich sowas 1985 in Frankreich serviert bekam, wo ich auf meiner Suzuki DR500 mit Freundin und Zelt in den Ardennen unterwegs war. Nun, dafür weiß ich heute, weshalb die Biester French Hotdogs genannt werden.
Als ich am späten Vormittag endlich aus Malung aufbreche, ertappe ich mich dabei, wie ich mega gute Laune habe, obwohl der Regen zugelegt hat und jetzt fröhlich auf mich herunterprasselt. "Oh, Baby...", singe ich meine Lieblingszeile in den Helm und bereue es im selben Moment, weil das Visier sofort von innen beschlägt.
Ob heute wieder Schotter dran ist? Oft weiß ich das vorher nicht, weil der Google Streetview Wagen hier nicht langgefahren ist und auf den Satellitenfotos ist es nicht immer zu erkennen.
Ich fahre über eine Kuppe und die Piste führt schnurgerade bis zum Horizont. Von vorne kommt mir ein Grader entgegen, der die Piste schiebt und ich halte an, um ein Foto zu machen. "Speicherkarte voll", steht auf dem Display der Kamera. Mist, aber ich habe noch genügend leere SD-Karten im Tankrucksack.
Ich schaffe es gerade eben, die Maschine unter Kontrolle zu bekommen, aber sowas will ich nicht noch einmal erleben, denn die Spitze im EKG war sicher sehenswert. Ab jetzt halte ich die KLX deutlich unter 70, zumindest bis der Matsch vorbei ist.
Kurz vor Kristinefors komme ich wieder auf die Landstraße und es ist ganz angenehm, einmal wieder ruhig auf Asphalt dahinzugleiten. In der Ferne taucht eine Tankstelle auf, die ich nicht auf dem Plan hatte. Die beiden Zapfsäulen sind Tankautomaten und ich bezahle draußen mit der VISA-Karte. Trotzdem gehe ich noch in den Laden, um mir einen Kaffee zu holen.
Hinterm Tresen steht ein Mann in meinem Alter. Er ist schwerbehindert, ich vermute, er hat eine spastische Lähmung, denn jede Bewegung fällt ihm schwer und scheint auf den ersten Blick unkontrolliert. Er spricht gut englisch und ich bestelle einen Kaffee.
Er verschwindet hinter einem Vorhang und kommt kurz darauf mit einem Becher Kaffee in den Händen wieder nach vorn. Mit Bedacht und großer Konzentration hält er seinen Körper unter Kontrolle und stellt den Becher vor mich hin.
"Milk or Sugar?", fragt er ernst.
"Milk please."
Er nimmt eine Tüte Milch und ich bin für einen Moment versucht, ihm das Einschenken der Milch abzunehmen, denn meine Hände sind ruhiger und für mich wäre es einfach, eine kleine Menge in die Tasse zu schütten, aber ich ahne, dass es falsch wäre, vielleicht sogar eine Kränkung sein könnte.
Mit Würde und großem Ernst beherrscht er seinen Köper, der ihn so im Stich gelassen hat, und schafft es, ohne einen Tropfen zu verschütten, die richtige Menge Milch einzuschenken. Ich bleibe am Tresen stehen und wir unterhalten uns noch einen Moment übers Wetter, so erfahre ich, dass für morgen Regen angesagt ist.
Als ein älteres Pärchen hereinkommt, nehme ich meinen Becher und gehe nach draußen. Auf einer Bank vor dem Laden sitzt ein Mann und packt gerade sein Essen aus. Neben ihm steht ein altes Herrenrad, das mit einer Menge Gepäck beladen ist. Auf den ersten Blick hätte ich ihn für einen Obdachlosen auf der Walz gehalten.
Ich frage ihn, wo er herkommt und erfahre, dass er aus Tschechien kommt und unterwegs ist zu den Lofoten. Mein Eindruck ist vielleicht gar nicht so falsch, denn ein festes Zuhause scheint er nicht zu haben, aber eine tiefer gehende Unterhaltung ist nicht möglich, weil ich kein Tschechisch und er nur wenig Englisch spricht.
Inzwischen hat er eine Dose Thunfisch geöffnet und mampft den öligen Fisch in sich hinein. Am liebsten würde ich fragen, ob ich mal beißen darf, so intensiv duftet der Thunfisch, aber ich kann mich gerade noch beherrschen, verabschiede mich freundlich und steige wieder auf mein Motorrad.
Eine halbe Stunde darauf erreiche ich Torsby, mit über 4000 Einwohnern der größte Ort der Gegend. Am Kreisverkehr gibt es einen Coop und einen ICA Supermarkt, eine gute Gelegenheit für meinen Einkauf.
Ich entscheide mich für Coop und mache mich mit dem Korb in der Hand auf die Suche nach dem Abendessen. Heute habe ich keine Lust, etwas zu braten, ich möchte lieber im Bett essen und dabei lesen. Die Helden in meinem Buch kämpfen gegen den nuklearen Winter und es ist gerade so spannend, dass ich das Kindle gar nicht mehr weglegen mag.
An der heißen Theke kaufe ich einen große Tüte Spareribs, dazu einen Schimmelkäse und Bier. Pieps sucht sich zwei Cremeschnitten aus, von denen ich jetzt schon ahne, dass sie unerträglich süß sein werden. Ich verstaue den Einkauf im Tankrucksack und wir fahren weiter.
Es sind noch 45 km bis Treens Camping. Der kleine Platz liegt an einem See mitten im Nirgendwo, womit allerdings die Lage der meisten Campingplätze in Schweden ganz prima beschrieben ist. Bei der Planung hatte er gut in meine Tagesetappe gepasst und auf dem Satellitenfoto sah er ziemlich einladend aus.
Eine lange, sandige Zufahrt führt am Seeufer entlang bis zu einer kleinen Hütte mit der Aufschrift Reception. Auf einem Schild an der Tür ist zu lesen, dass der Empfang nur von 16 bis 18 Uhr geöffnet ist. Es ist 16:40 Uhr und natürlich ist die Hütte verschlossen.
Schnell, schnell 180 Kronen in das kleine VISA Kartenterminal tippen. Es ist erstaunlich, dass eine solche Hütte im Wald überhaupt Strom hat, geschweige denn ein online Datenterminal zu VISA, aber es funktioniert schnell und zuverlässig.
"Did you hear the weather forecast?", durchbreche ich das Schweigen.
"Yes", eine Antwort, wie ich sie liebe.
"And what's it gonna be tomorrow?", hake ich nach.
"Rain", lässt Anika sich zu weiteren Auskünften herbei. Ich schweige sie ausdruckslos an.
"Heavy rain in the night and tommorrow!", fügt sie hinzu und schafft es auch beinahe, nicht allzu schadenfroh zu klingen, aber das Zucken um ihre Mundwinkel verrät sie doch.
Ich stelle mir denselben Dialog in Italien vor, wenn der Wettermann gerade eine Unwetterwarnung für die nächsten Wochen vorhergesagt hätte:
"Luigi, wie wird das Wetter morgen?"
"Oh, äh, ganze wunderbare. Viele Sonne. Vielleicht an die Nachmittag kommte eine winzige Tropfen warme Regen für die Blume und für die schöne Haut von bella Signorina."
In der folgenden Nacht saufe ich mit all meinen Klamotten völlig ab, aber wenigstens habe ich mich vorher nicht eine Sekunde lang schlecht gefühlt.
Irgendwann werde ich nach Italien fahren, und sei es nur, um einmal charmant belogen zu werden. Die Art der Skandinavier kann einem schon auf den Wecker gehen, dabei ist mir der Regen ziemlich egal, ich wollte nur etwas Small Talk machen.
Ich sitze noch nicht einmal ganz auf dem Motorrad, da rauscht Anika schon wieder davon. Für die Zukunft gilt: Wenn die Rezeption nicht besetzt ist, dann baue ich mein Zelt auf und falls am nächsten Morgen noch keiner da ist, dann verschwinde ich. Kein Service, keine Kohle, kein schlechtes Gewissen.
Sowie das Zelt fertig eingerichtet ist, brechen Pieps und ich auf zu einer Platzrunde. An der Badestelle setze ich mich auf eine Bank und schreibe mein Tagebuch fort. Es ist ganz windstill und der See liegt völlig ruhig unter dem grauen Himmel. Als in der Ferne ein Specht stakkatoartig zu klopfen beginnt, erschrecke ich fast.
Das ist ein toller Urlaub bis jetzt und den heavy rainfall, den warten wir erst einmal ab. Dann schlafe ich morgen eben länger und warte auf eine Regenpause, um das Zelt abzubauen.
Pieps hat sich inzwischen ausgezogen und möchte ihren berühmten Köpper üben. Entschlossen geht sie hinunter ans Wasser und nimmt die vorgeschriebene Haltung ein. Gerade als ich denke, nun springt sie endlich, geht ihr Blick zum Himmel und...
So nah dran waren wir noch nie, denke ich, während wir zurück zum Zelt gehen.
Gerade als ich vorbei bin, erschallt ein gellender Pfiff hinter mir, der mich zusammenzucken lässt. Noch ein Pfiff und dann wird irgendwas gegröhlt, das ich nicht verstehe. Ich bleibe stehen, drehe mich um und fixiere die spiegelnden Plastikfenster des Vorzelts mit einem Blick, den ich für Kindesmissbraucher, GEZ Eintreiber und meine Exfrau reserviert habe.
Ich stehe und starre, aber die Jungs bleiben stumm in ihrem Vorzelt verborgen. Hatte ich auch nicht anders erwartet. Trotzdem ätzend, denn betrunkene Typen ängstigen mich und jedesmal, wenn ich zum Waschhaus will, muss ich genau hier vorbeigehen.
Egal, jetzt ruft das Abendessen. Pieps und ich machen es uns im Schlafsack gemütlich und bereiten unser Abendessen vor. Ich habe nie zuvor Spareribs gegessen, weil ich den Sinn nicht gesehen habe: Eine Menge Knochen mit ein wenig magerem Fleisch dazwischen, dachte ich immer, und das Ganze auch noch eine Riesensauerei beim Essen.
Wie ich es manchmal hasse, recht zu haben. Endloses Knochenpulen und schmierige Hände für vielleicht 300 g mageres Fleisch. Sowas kauf ich nie wieder, denn genauso, wirklich genauso, hatte ich mir das vorgestellt, Schlachtabfälle am Stiel. Bäh!
Durch einen Spalt im Vorzelt sehe ich nach draußen und beobachte die Gruppe von fünf Männern, die langsam an meinem Platz vorbeischlendert. Ich verhalte mich mucksmäuschenstill und muss dabei an eine Szene aus The Walking Dead denken.
Nein, das sind keine Jungs, die dürften im Schnitt 10 Jahre älter sein als ich und sehen völlig harmlos aus, darunter mindestens zwei Silberrücken mit Socken in Sandalen. Die tun mir nichts, die sind nur in Partylaune. Warum haben sie nicht einfach gefragt, ob ich ein Bier mit ihnen trinken möchte? Hätte ich nämlich.
Eine freundliche Ansprache ist noch immer die beste Art, um Kontakt zu knüpfen. Hinterherpfeifen und coole Sprüche funktionieren nicht, hab ich alles schon probiert.
Ich wende mich wieder meiner spannenden Lektüre zu. Es ist schon erstaunlich, was bei so einem Atomkrieg alles in die Grütze geht und womit man sich dann herumschlagen muss.
zum nächsten Tag...
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