100 km Schotter
Heute bin ich früh unterwegs, weil ich viel zu aufgeregt war, um lange zu schlafen: Ich will herausfinden, ob stillgelegte Eisenbahnstrecken sich zum Endurowandern eignen. In Schweden gibt es nämlich hunderte Kilometer zurückgebauter Bahntrassen durch die Wälder, allerdings habe ich keine Vorstellung, ob man darauf fahren kann und ob das überhaupt erlaubt ist, doch genial wäre es schon.
Schon wenige Kilometer hinterm Campingplatz endet der Asphalt und geht in Gravel über. Ich bin unterwegs nach Storstupet, einem Wildwasser Canyon 20 km östlich von Mora. Die Piste folgt dem Lauf des Ämån stromaufwärts in die Schlucht.
Der Fluss hat sich hier 30 m tief in den Fels eingegraben und ein Pfad führt steil hinunter zu den Stromschnellen. Kein besonders schwieriger Trail, aber ganz sicher auch nicht mit dem Rollator zu schaffen.
Die Inlandsbahn überquert den Canyon auf einer 34 m hohen Bogenbrücke aus Eisen. Sie stammt aus dem Jahr 1903 und war damals die erste ihrer Art in Schweden. 160 km von hier werde ich später ein stillgelegtes Stück dieser Strecke suchen.
Heute werde ich noch einmal über Mora fahren, denn ich muss tanken, bevor es auf die lange Piste geht. Die nächste Tankstelle, die ich ermittelt habe, steht erst 160 km weiter in Särna.
Kurz vor Mora führt die Straße durch Orsa, ein Dorf mit einem Kreisverkehr, einer Tankstelle und einem Schnellrestaurant. Das Diner sieht nicht gerade einladend aus, aber ich habe Hunger und kann nicht allzu wählerisch sein.
Schon beim Reinkommen habe ich den Eindruck, dass dieses kein Glücksgriff war. Wenn ich jemals einen uncharmanten, schmutzigen Löffel gesehen habe, dann diesen. Ich studiere das Menü auf der Tafel über dem Tresen, während die Bedienung mich gelangweilt ansieht. Sie ist etwa in meinem Alter, tätowiert, gepierct, gefärbt und hager geraucht.
Ich bestelle ein Sandwich und setze mich so weit es geht von den anderen Tischen weg. Dort sitzen sechs Typen vom flacheren Ende des Genpools. Sie tragen Lederkutten und wirken wie eine Hartz IV Ausgabe der Sons of Anarchy.
Bei jedem besonders gelungenen Rülpser johlt die Gang begeistert los, während Piercing Barby ihnen bewundernde Blicke zuwirft. Ich schlinge das Essen in mich hinein, exe den Becher Kaffee und verschwinde. Diese Typen machen mir Angst.
In Mora tanke ich das Motorrad voll und verlasse die Stadt auf einer kleinen Parallelstraße zum Riksväg 70 südlich des Flusses Österdalälven.
Nach 40 km erreiche ich Evertsberg, durch das im Winter der Wasalauf führt, das größte Skilanglaufrennen der Welt. Für ein paar Tage ist Evertsberg dann Zentrum des weltweiten Skicirkus, doch jetzt wirkt das Dorf verlassen und ich fahre weiter ohne anzuhalten.
Die Landstraße führt jetzt schnurgerade bis zum Horizont, nur unterbrochen durch kleine Hügel und Senken, die den Blick begrenzen. Ich nehme etwas Gas weg und fahre aufmerksam weiter, denn gleich muss sie kommen, die Abzweigung in den Wald hinein.
Das Auge findet kaum etwas, woran es sich festhalten kann, nur das endlose, graue Asphaltband, links und rechts Birken und Fichten, aber dort hinten, vielleicht einen Kilometer voraus, da ist etwas. Ja, das ist mein Abzweiger, Lövnäs 34 km.
Ich knipse ein Foto und biege auf die Piste ab, ein gut ausgebauter, breiter Weg, auf dem zwei Autos sich mühelos begegnen könnten. Der Boden ist steinhart und nur wenig loser Gravel liegt darauf.
Die Straße fährt sich kaum anders als auf Asphalt und wäre auch mit jedem anderen Motorrad gut zu fahren. Sogar mit einer Harley müsste man hier total cool durch die Wälder cruisen können, aber auf 100 km kann sich auch eine Menge ändern.
Schon bald bin ich schneller unterwegs, als eben noch auf der Landstraße und heize mit knapp 100 Sachen durch den Wald. Es macht einen Riesenspaß, die langen Geraden in sich hineinzufressen und hinten als Staubwolke wieder auszuspucken.
Ein paarmal halte ich an und stelle die Kamera am Straßenrand aufs Stativ, um anschließend voller Vergnügen durchs Bild zu heizen. Ich möchte ein paar kurze Clips in den Reisebericht einbauen, damit man einen Eindruck bekommt, wie sich Schwedenschotter anfühlt, aber ich merke, wie fremd mir das Medium Video ist und wieviel aufwendiger als Fotografie.
Während ich neben dem Motorrad auf dem Boden hocke und das Stativ ausrichte, wird mir plötzlich bewusst, wie einsam diese Gegend ist. Der einzige Ort in dieser Wildnis ist Lövnäs mit gerade einmal 35 Einwohnern und danach lange nichts mehr.
Meine Güte, wie ich das liebe, dieses Gefühl von Alleinsein. Im Wald ruft ein Vogel, ein zweiter antwortet, Insekten schwirren eilig vorbei und manchmal hört man den Wind in den Bäumen, sonst nichts. Ich denke, dieses wunderbare Gefühl entgeht einem, wenn man nicht allein, sondern in einer Gruppe unterwegs ist.
Private Grundbesitzer erhalten Zuschüsse vom Staat, damit sie ihre Wege in Ordnung halten. Im Gegenzug dürfen sie die Pisten nicht als Privatwege sperren, sondern müssen sie frei befahrbar lassen. Eine echte Win-win-Situation, besonders für Endurofahrer.
Ich stoppe und lasse den Grader langsam vorbeifahren, er ist kaum schneller als Schrittgeschwindigkeit. Bei diesem Tempo muss es für den Fahrer nahezu etwas Meditatives haben, durch den Wald zu fahren. Ich winke ihm freundlich zu und er winkt aus seiner Kabine zurück.
Mehr als einmal liege ich fast auf der Nase, bis ich endlich einen Weg finde, damit klarzukommen: Den Lenker nicht zu fest halten und nur die grobe Fahrtrichtung vorgeben, die Enduro sucht sich selbst ihren Weg. In dieser Situation spüre ich, wie sogar ein leichtes Urlaubsgepäck von knapp 20 Kilo bereits das Handling behindert.
Wenn es brenzlig wird, genügt ein entschlossener Gasstoß, um die Fuhre wieder zu stabilisieren, aber trotzdem schwitze ich unter dem Helm, denn manchmal ist es mehr Glück als Können, dass wir uns nicht hinlegen.
In Lövnäs begegne ich keiner Menschenseele, die 35 Einwohner sind wohl alle auf der Arbeit. Ob die Hütten nur am Wochenende bewohnt sind? Der Ort liegt verlassen, aber dafür gibt es einen kurzen Abschnitt asphaltierter Straße an einem Seeufer entlang.
Schon bald zeigt der Track vom Asphalt hinunter wieder auf Schotter, aber diesmal steht dort ein Warnschild: Skogsväg. Hinder och fara kan förekomma. Waldweg. Hindernisse und Gefahren können auftreten.
Diese Wege gehören den großen Holzgesellschaften. Man darf sie frei befahren und keine Verbote trüben den Fahrspaß, aber im Gegenzug muss man immer damit rechnen, dass Äste oder Baumstämme im Weg liegen. Gerade deshalb sind sie ideal zum Endurowandern.
Die Szenerie erinnert an Bilder aus Kanada: Tiefe Wälder, schneebedeckte Berge und Einsamkeit. In Schweden leben ungefähr 3000 Braunbären und etwa 30 Wolfsrudel, aber keines dieser Raubtiere wird man zu Gesicht bekommen, dafür sind sie viel zu scheu und eine Gefahr für Camper sind sie schon gar nicht.
Auf den letzten 70 km bin ich außer dem Fahrer des Graders keinem Menschen begegnet und bis zur nächsten Ortschaft sind es noch 30 km. Die Abwesenheit von Menschen ist überhaupt ein ganz besonderes Qualitätsmerkmal dieser Landschaft, aber mir wird auch bewusst, wie sehr ich auf mein Motorrad angewiesen bin. Durch diese Gegend zu fahren bedeutet, der Technik zu vertrauen.
Jetzt müsste ich bald auf die alte Eisenbahnstrecke treffen. Wenn man wollte, könnte man hunderte Kilometer auf stillgelegten und zurückgebauten Bahnstrecken durch die Wälder fahren, aber heute möchte ich erst einmal ausprobieren, ob das überhaupt geht und ob es erlaubt ist.
16 km vor Särna kreuze ich die 311 und schlage mich auf der anderen Seite der Landstraße wieder in die Büsche und tatsächlich stoße ich auf eine schnurgerade Schneise durch den Wald. Das ist die alte Strecke der Eisenbahn nach Särna, die schon in den 60er Jahren stillgelegt wurde. Die Gleise und das Schotterbett sind längst abgebaut.
Gleich zu Anfang erwartet mich ein Verbotsschild. Offenbar braucht man eine Genehmigung, um hier fahren zu dürfen. Nein, das Risiko gehe ich ein. Hier störe ich keinen Menschen und behindere oder gefährde niemanden, bestenfalls mich selbst. Der südwärts führende Teil der Strecke ist nicht durch ein Verbotsschild beschränkt. Vielleicht ist es wirklich nur dieser eine Abschnitt bis Särna.
Der Weg ist gut fahrbar: Ab und zu liegen ein paar Steine im Weg, Wurzeln wachsen quer rüber, oder es gibt tiefe Schlaglöcher und ein paar sandige Stellen, aber schwierig zu fahren ist die alte Railroad Strecke nicht und sie verläuft natürlich schnurgerade.
Ich kann noch nicht sagen, ob sich das Endurowandern auf stillgelegten Bahnstrecken lohnt und wo es überhaupt erlaubt ist, aber ich werde es herausfinden, doch das ist Stoff für eine andere Reise.
An einem alten Bahnübergang biege ich wieder auf die 311 ein und fahre die letzten Kilometer bis nach Särna. Am Ortsrand steht der alte Bahnhof und wäre ich auf der Strecke geblieben, könnte ich jetzt in meinen Helm rufen: "Zurücktreten von der Bahnsteigkante. Auf Gleis 1 hat Einfahrt die Svendura aus Kiel."
Noch vor Tagen hätte ich einen Ort mit 700 Einwohnern kaum als Metropole bezeichnet, aber es ist erstaunlich, wie sich die Perspektive ändert. Als ich nach Särna hineinfahre, tauchen wie aus dem Nichts eine Tankstelle, ein Supermarkt, ein Yamaha Händler (die Snowmobile, nicht die Motorräder), Husqvarna (Motorsägen) und dazu Autos, Radfahrer und Fußgänger auf. Särna ist tatsächlich die glänzende Metropole dieser Gegend.
In der Tankstelle lege ich eine Pause ein und trinke einen Automatenkaffee. Das war wirklich eine außergewöhnlich schöne und abenteuerliche Strecke, immerhin fast 100 km Schotter, die sich mit jeder Enduro fahren lässt.
Am Boden des Kaffees gehe ich hinüber zum Supermarkt. Bei dem herrlichen Wetter möchte ich draußen essen und brauche nur noch das passende Fleisch dazu. Der kleine Coop in Särna hat nicht die Auswahl der großen Supermärkte, aber trotzdem finde ich etwas: Ich kaufe vier Schweinekoteletts, fünf große Champignons, zwei Bier und ein Marzipanbrot.
Der Riksväg 70 folgt dem Fluss und ich kann sehen, dass weite Teile der Niederung bis vor kurzem überflutet waren. Mücken lieben dieses Milieu und ich hoffe inständig, dass die Zeltwiese trocken ist. Bisher habe ich allerdings noch keine Probleme mit Mücken gehabt.
Am Ortseingang von Idre geht es links zum Campingplatz. Oh, das ist aber hübsch hier. Das Motorrad parke ich vor dem kleinen Kiosk mit der Rezeption. Eine ältere Dame begrüßt mich freundlich und legt einen Anmeldezettel auf den Tresen. Svenja Kühnke, Kiel und 150 Kronen reichen aus, niemand fragt nach der blöden Campingkarte.
zum nächsten Tag...
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