Zurück aufs Festland
Über Nacht ist das schöne Frühlingswetter verschwunden. Eine dichte Wolkendecke zieht über Gotland hinweg und feiner Nieselregen liegt in der Luft. Ich ziehe die dünne Windjacke über und beeile mich, das Zelt abzubauen.
Ich schnalle den blauen Zeltsack aufs Motorrad und sehe mich ein letztes Mal um, ob ich nichts vergessen habe. Vor der Rezeption halte ich an, um endlich einzuchecken und um zu bezahlen, aber ich habe kein Glück, es ist niemand da.
Trotzdem will ich nicht so einfach verschwinden und schreibe einen Zettel, dass ich unten am Strand gezeltet habe. Ich nehme drei Hundertkronenscheine und wickele sie in den Zettel ein, um beides in den Briefkasten an der Rezeption zu werfen.
Aber was ist das? Der Kasten lässt sich nicht öffnen, man braucht einen Schlüssel dazu. Das ist gar kein Postkasten, sondern eine Sicherheitsbox, in der die Schlüssel der Hütten deponiert werden, die auf dem Campingplatz stehen.
Jetzt werde ich mich auf die Suche nach einem Frühstück machen. Das Café in Ljugarn ist leider noch geschlossen, aber auf halbem Weg nach Visby liegt eine Klosterruine, wo es auch ein Museum und ein Café geben soll, jedenfalls stand das so im Reiseführer.
Nach 30 km biege ich auf eine Allee ab, die schnurgerade zum Kloster Roma führt. Schon beim Näherkommen sehe ich den grünen Reisebus der Kieler Autokraft. Ich drücke auf die Hupe und winke dem Busfahrer begeistert zu, wie ich das gerne tun, wenn ich weiter als hundert Kilometer von Zuhause ein Kieler Kennzeichen entdecke.
Der Busfahrer sitzt am Lenkrad und wartet gelangweilt auf die Rückkehr seiner Reisegruppe. Er schaut mich nur verständnislos an. Stur sind sie, die Kieler. Erst später fällt mir ein, dass er mein Kennzeichen nicht sehen kann, wenn ich auf ihn zufahre.
Das Café ist in einer alten Scheune untergebracht und wunderbar rustikal eingerichtet. Wenn es nur nicht so bitterkalt in dem dicken Gemäuer wäre, aber ich lasse die Motorradjacke an und komme zurecht. Was gibt es denn zum Frühstück?
Auf einer Kreidetafel stehen ein paar Gerichte zur Auswahl. Das da sieht gut aus: Sandwich Italia mit Brie und Salami für 69 Kronen. Wow, das muss ja eine Riesenportion sein und irre gut schmecken.
Ich bestelle das Italia Sandwich mit Kaffee dazu und setze mich an einen Tisch. Erst jetzt bemerke ich, dass an allen Möbelstücken kleine Preisschilder hängen. Es sind aufgearbeitete Antiquitäten und die Preise scheinen mir sehr günstig zu sein.
"Die essn gäähne Blätter, die Westgoten, näh?!", stellt Pieps völlig korrekt fest.
"Ja, mein Schatz, das tun sie", erwidere ich seufzend und fange an zu essen.
Wir vertilgen alles, was nicht nach Gartenabfall aussieht und das schmeckt tatsächlich ganz prima. Zwischendurch hole ich immer wieder frischen Kaffee. So teuer das Essen in Schweden auch ist, mit den kostenlosen Refills beim Kaffee kriege ich sie doch wieder.
Als ich das Gefühl habe, für etwa 10 € Kaffee getrunken zu haben, mache ich mich auf, die Klosterruine zu besichtigen, aber viel gibt das alte Gemäuer nicht her, denn es ist wirklich nur noch eine Ruine.
Auf der Einfallstraße nach Visby komme ich wieder an dem großen ICA Supermarkt vorbei und beschließe, schon jetzt fürs Abendessen einzukaufen. Meine Fähre kommt erst abends in Nynäshamn an und auf dem Weg zum Campingplatz gibt es vielleicht keinen Laden mehr.
Eine große Scheibe American Beef landet im Korb zusammen mit dem üblichen Beifang. An der Kasse wundere ich mich, dass die Scheibe Fleisch nur 6 € kostet. Chuck Roll steht auf der Packung. Das ist doch hoffentlich kein Rouladenfleisch, oder? Das wird beim Braten nämlich zäh wie Leder.
Vom Supermarkt ist es nicht weit bis zur Stadtmauer. Ich stelle das Motorrad am Osttor ab und schlendere durch den Torbogen nach Visby hinein. Einen Plan für meine Stadtbesichtigung habe ich nicht, ich möchte mich nur umsehen und ein paar Bilder machen.
Ganze Heerscharen von Touristen schlendern knipsend, besichtigend und staunend durch die Stadt und ich bin eine von ihnen.
Der Trick ist es, mit versteinerter Miene regungslos herumzustehen und ein Teil des Hintergrundes zu werden, auch wenn das in einer orangen Endurojacke nicht ganz einfach ist.
Überhaupt habe ich in meinem Leben bisher erst zwei Schwedinnen gesehen, die keine Turnschuhe anhatten: Die eine trug Flip Flops, die andere einen Gipsfuß. Das müssen sehr fußgesunde Menschen sein, diese Schweden.
Während ich noch über die Konformität junger Menschen sinniere, kommt eine Frau auf mich zu und spricht mich auf Schwedisch an. Sie ist vielleicht 60 Jahre alt, hat ein sympathisches Gesicht mit blassblauen Augen und trägt eine Alkoholfahne vor sich her, wie ein russicher Minenarbeiter am Freitagabend.
Als sie merkt, dass ich kein schwedisch kann schaltet sie sofort um und spricht ausgezeichnet englisch.
Sie erzählt mir eine wirre Geschichte von einem Harley Shop in Amsterdam, dessen Inhaber Patrick heißt und der ihr vor vielen Jahren das Herz gebrochen hat. Bei jeder Bewegung, die sie macht, klirren Flaschen in ihrer Einkaufstasche.
Ob ich einen Platz brauche, wo ich mich aufwärmen und meine Sachen trocknen kann? Beinahe bittend sieht sie mich aus blauen Augen an und mir wird plötzlich klar, dass der Alkohol und die Einsamkeit sie allmählich auffressen und sie auf der Suche ist nach einem lieben Menschen.
Nein, dieser Mensch kann ich nicht sein. Meine eigene Einsamkeit habe ich schon vor langer Zeit zur Kunstform erhoben und da passt niemand sonst ins Bild. Ich verabschiede mich voller Wärme und Freundlichkeit und steige wieder auf mein Motorrad.
Die Fähre aus Nynäshamn legt gerade an, als ich zum Hafen komme, und sofort beginnen die Stauer mit dem Entladen. Mit kleinen, wendigen Zugmaschinen werden die LKW Trailer aus dem Schiff gezogen und auf dem Kai abgestellt, wo örtliche Spediteure sie später abholen.
Die Abfertigung eines Fährschiffs funktioniert wie eine gut geölte Maschine. Lieferwagen und LKW halten am Schiff und bringen Ware, während unter Deck die Putzmannschaften wischen, saugen und reinigen. Kühlschränke werden gefüllt, Salate geschnitten, Automaten bestückt und Mülleimer geleert.
Der Lademeister winkt zuerst die Wohnmobile an Deck und gleich danach die Motorräder. "Die Motorräder", das sind in diesem Fall nur Greeny, eine BMW 800GS und ein Fahrrad, das mehr Gepäck an Bord hat als ich.
Behutsam fahre ich über die lange Rampe hinauf ins Schiff, denn das nasse Metall sieht rutschig aus. Die Fähre ist offenbar ein Schwesternschiff der Fähre, mit der ich nach Gotland gefahren bin und ich stehe sogar auf der gleichen Stelle. Ich wecke Pieps und gehe mit ihr nach oben in den Salon.
Es gelingt mir, eine Weile im Sitzen zu schlafen und als ich aufwache und hinaus aufs Meer schaue, kommt schon Land in Sicht. Ich sehe auf die Uhr und ziehe meine Jacke an, denn wir werden bald anlegen.
Als wir in Nynäshamn ankommen, ist der Himmel bedeckt und es sieht nach Regen aus. Über die Autobahn fahre ich in Richtung Stockholm und biege nach 30 km auf eine Nebenstraße ab, die hinaus zum Campingplatz führt.
Auf Gålö Camping wird gebaut. Ein Trupp Arbeiter und ein Bagger bearbeiten den Parkplatz. Ich fahre an ihnen vorbei und parke die Enduro auf dem matschigen Platz vor der Rezeption.
"Come in. We're open!", steht auf dem Schild an der Tür und ich brauche nicht erst an der Klinke zu rütteln, um zu wissen, dass geschlossen ist.
Gleich nebenan gibt es ein Restaurant, wo ich Hilfe suche. Einer Kellnerin, die mit einem Tablett vorbeihuscht, klage ich mein Leid und sie holt jemanden, der jemanden holt, der die Rezeption für mich öffnet und das Check In macht.
Inzwischen ist es schon recht spät und es wird allmählich dunkel. Langsam rolle ich über das Gelände und suche einen Platz für mein Zelt.
Am Ende des Weges, ziemlich in der Ferne, taucht ein Typ auf und winkt wie blöde. Ob das der Platzwart ist, der mir die Zeltwiese zeigen will? Oder darf ich um diese Zeit nicht mehr fahren?
Je weiter ich auf ihn zufahre, desto bekannter kommt er mir vor. Nein, das kann nicht sein. Das ist doch nicht? Doch, den kenne ich: Das ist Kai-Uwe, der Nordicbiker. Wir standen vor meiner Reise in Mailkontakt und ich hatte berichtet, dass ich mit der Fähre aus Nynäshamn kommen würde und welchen Zeltplatz ich ausgesucht habe.
Als auch mein Zelt steht, verziehen wir uns gemeinsam in die Camperküche, die so fein ausgestattet ist, dass man sich sofort unwohl fühlt: Ledersessel, Cerankochfeld, Flachbildfernseher und Spülmaschine, aber zumindest dem Herd können wir schnell Abhilfe schaffen, indem wir im spritzenden Fett unsere Steaks braten und das blanke Kochfeld in kürzester Zeit völlig ruinieren.
Kai-Uwe hingegen ist zwar ein großer Endurofahrer, aber zum Glück nur ein kleiner Esser und so bekomme ich noch die Hälfte von seinem Steak ab und werde auch satt.
Es ist schon spät, als wir endlich in unsere Zelte verschwinden. So gut und intensiv habe ich mich lange nicht mehr über Enduros, Zelten und über Schweden unterhalten.
zum nächsten Tag...
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