Inhaltsverzeichnis Dalarna 2024 Tag 1 Kiel - Oslo Tag 2 Oslo - Schweden Tag 3 Värmland - Dalarna Tag 4 Vansbro und ein Knytkalas Tag 5 Nås - Näs Bruk Tag 6 Avesta Tag 7 Tällberg am Siljansee Tag 8 Outback Dalarna Tag 9 Fäbod Fryksås
In Harlan County
Ein Blick auf den Reiseplan zeigt auf den gesamten 162 Kilometern heute nur drei Orte: Torsby, Ekshärad und Nås.
Auf die braun gedruckten 67 km hinter Ekshärad freue ich mich ganz besonders,
das sind alles Offroadstrecken zum Endurowandern.
Dabei sind die nicht einmal Bestandteil des TET.
Die Gepäckrolle geht auf dieser Reise nur mit Kraft richtig zu. Der dicke Schlafsack und die neue Isomatte mit dem höheren R-Wert sind sperriger als die Ausrüstung, mit der wir sonst unterwegs sind, aber da, wo wir hinfahren, soll es nachts noch kalt sein.
Die Straße nach Torsby führt bis zum Horizont geradeaus. Jede Gerade ist etwa 3 km lang. Für Racer und Kurvenjunkies langweilig, aber ich kann auch solche Abschnitte mögen. Öfter als nicht begegnet uns kein anderes Fahrzeug, die völlig Abwesenheit von Stress und Straßenverkehr.
Wir fahren durch Finnskogen, ein riesiges Waldgebiet in der Grenzregion zwischen der Provinz Innlandet in Norwegen und Värmland in Schweden.
Im Zentrum des spärlich besiedelten Finnskogen liegt die Stadt Torsby mit 4.500 Einwohnern.
Torsby ist hässlich, wie so viele Städte in Skandinavien, oder um es nett auszudrücken: Es hat wenig Schönes an sich, ist aber zweckmäßig und funktional.
Vermutlich werden hübsche Orte wie Røros auch deshalb so gehypt, weil dort der Kontrast besonders groß ist zu den seelenlosen Wohnbatterien mit Supermarkt und Tankstelle, die so typisch sind für die Städte im hohen Norden.
Kein bisschen hässlich oder unansehnlich sind dagegen die frischen Kanelbullar in der Cafeteria bei ICA.
Zum Glück ist heute Morgen wenig los, denn ich kapiere zu spät, dass man zuerst eine Nummer ziehen soll, bevor man dran ist. Ich wäre die 009 gewesen, aber als echter Piefke schreite ich auch ohne Aufruf zur Tat und bediene mich selbst. Mit Kaffee und Zimtschnecke stiefele ich zur Kasse.
Diese Zimtschnecken, Kanelbullar sind in Schweden allgegenwärtig.
Einer ungeschriebenen Regel zufolge muss der Kaffeegast zuerst eine dieser sättigenden Kuchen vertilgen, ehe er sich am Tortenbuffet bedienen darf.
Vermutlich aus demselben Grund, aus dem ich meinen Gästen stets sage: „Nehmt ordentlich Brot. Das ist gut. Und den Kopf von den Sprotten könnt ihr ruhig mitessen. Die sind schön knusprig.“
Värmland ist eine der waldreichsten Regionen Schwedens und die Holzwirtschaft der größte Arbeitgeber der Gegend. Viele Menschen arbeiten im Wald, in der Forstwirtschaft oder bei der Holzverarbeitung. Der vor mir in den Kreisverkehr einbiegt, fährt einen dieser übergroßen Holzlaster, und zwei Kilometer weiter komme ich an einen Verladebahnhof, wo gerade ein Güterzug mit Holz beladen wird.
Bei GEO habe ich einen interessanten Artikel über Värmland gelesen, der Lust auf die Gegend macht. Vielleicht ist beim nächsten Besuch Värmland das Thema der Reise?
Kurz vor Mittag erreichen wir Ekshärad, einen 1000-Seelen-Ort am Ufer des Klarälven. Ich parke die Honda vor dem ICA-Supermarkt.
Hier oben bieten mache dieser Läden ein Mittagsbuffet an. Es kostet nicht viel und gibt täglich ein All-you-can-eat Buffet mit zwei oder drei wechselnden Gerichten. So eines wollen wir auch.
Das Buffet ist ausgeschildert. Von 11:00 bis 15:00 Uhr steht auf der Tafel. Es ist 11.09 Uhr.
Ich gehe zum Tresen, um zu fragen, wie das mit dem Buffet funktioniert. Das Mädchen dahinter ist so jung, dass ich sagen will: „Hol mal bitte deine Mama. Die Tante hat eine Frage.“
Stattdessen: „How does it work?“„You pay 119 kronas once and can help yourself to the buffet including coffee and chocolate cookies afterwards.“
119 Kronen. Das sind 10,50 € für ein fröhliches Friss-dich-zu-Tode mit Fleisch und Sauce und hinterher auch noch Kaffee und Gebäck.
Wenn es sowas in Kiel gäbe, hätten Pieps und ich eine Monatskarte.
Für den Preis gibt es bei Starbucks einen Bacon & Egg Bagel und einen Pumpkin Spice Latte, auch wenn ich nicht mal weiß, was das ist.
Ich bezahle, schnappe mir ein Tablett und gehe rüber zu den Feischtöpfen. „Oh, das sieht gut aus, Baby!“, sage ich halblaut zu mir selbst.
Es gibt zwei Sorten Fleisch, Schweinenackenbraten und Kassler, dazu gekochte und gebratene Kartoffeln, eine Pfefferrahmsauce und eine mit Backpflaumen. Außerdem Gemüse und sogar eine Salatbar, aber diese Beiden kommen nicht vor in unserer Geschichte.
Das Essen ist verblüffend lecker und man darf so oft nachnehmen, wie man will. Das alles für 119 Kronen. Inzwischen hat sich der Saal gefüllt, zur einen Hälfte Handwerker, die anderen sind ältere Menschen.
Neben günstigem Essen spielen die Buffets auch eine wichtige soziale Rolle bei der Versorgung älterer Menschen. Es geht nicht bloß um Ernährung. Wer allein lebt, findet hier eine Möglichkeit, andere Menschen zu treffen, gemeinsam zu essen, ein wenig zu schwatzen und teilzuhaben am Leben. Selbst die Tagesschau hat schon einmal einen Beitrag gemacht über die Alterseinsamkeit in Schweden.
Auch in meinem Wohnblock in Kiel bin ich nur eine von fünf alleinlebenden älteren Damen, und in Schweden ist der Anteil an Single-Haushalten sogar höher als in Deutschland.
Schweden hatte 2016 den höchsten Anteil an Ein-Personen-Haushalten in der gesamten EU.
Das sind viele potentiell einsame Menschen und Gerne-am-Buffet-Esser.
Wenn jedoch alle so gnadenlos zulangen wie Pieps, dürfte der günstige Preis auf Dauer nicht zu halten sein.
Schwerfälliger als bei unserer Ankunft steige ich wieder auf die Enduro und starte den Motor.
Auf einer Brücke über den Klarälven fahre ich aus der Stadt. Der Klarälven ist einer der großen Flüsse Schwedens, und allmählich kapiere ich, dass ein Älv ein Fluss ist, und nicht, was ich immer dachte mit spitzen Ohren.
Einige Kilometer geht es noch auf Asphalt weiter, aber dann biegen wir schon ab auf eine der schwedischen Waldautobahnen.
Die Strecke führt kurvig durch eine hügelige Landschaft, bis zum Horizont nur Wolken und dichter Wald. Mit Begeisterung fahre ich jeden Kilometer.
Von weitem entdecke ich zwei Motorräder auf der Piste von vorn.
Beide Piloten fahren im Stehen mit eingeschalteten Nebelscheinwerfern und Alukoffern am Heck. Mehr Adventure geht nicht, gebe ich neidlos zu.
Stehend zu fahren signalisiert vor allem, dass man das Endurofahren ernst nimmt und nicht bloß aufm Ackermofa beiläufig übern Feldweg hoppelt.
An einer Weggabelung aus Staub und Kiefernnadeln steht mitten im Wald ein verwitterter Wegweiser. Ob der hier schon gestanden hat, als Claudia ihre Radtour durch Schweden gemacht hat?
„29er Hardtail Gravelbike oder Mountainbike mit Full Suspension?“ „Keine Ahnung. Das war das Rad von ihrem Vater.“ „Also ein basic Trekking mit 7-Gang Nabe? Oder Rohloff SpeedHub?“ „Eine Gangschaltung hatte das noch nicht. Aber es war blau!“
Claudias Radreise durch Schweden liegt nun bereits einige Jahre zurück.
Als sie mit der Fähre in Ystad ankam, galt in Schweden noch Linksverkehr.
Rechtsverkehr kam erst 1967.
Der Tag der Umstellung wurde Dagen H genannt, Tag H, für schwedisch högertrafikomläggningen, Rechtsverkehrumstellung.
Es muss unglaublich gewesen sein, als an jenem Sonntagmorgen um 5:00 Uhr alle, wie auf ein geheimes Kommando hin die Straßenseite gewechselt haben.
Vier Stunden vorher und eine Stunde danach war jeglicher private Autoverkehr untersagt. In dieser Zeit wurden alle Verkehrszeichen für den Rechtsverkehr umgesetzt. (Quelle: Wikipedia)
Zwischendurch ist ein kurzer Abschnitt asphaltiert, gerade lang genug, um ein offizielles Schild Dalarnas Län am Straßenrand hinzustellen.
Wir kommen an Holzhäusern in verschiedenen Stadien des Ungepflegt-seins vorbei, im Vorgarten stehen dicke Amischlitten im Gras und daneben ein Volvo, der nie wieder irgendwo hinfahren wird.
Es wirkt wie Harlan County, Kentucky, wo irgendwelche zahnlosen Rednecks auf der Veranda im Schaukelstuhl sitzen und Banjo spielen.
So ähnlich hat die Strecke in dem Film Wrong Turn auch ausgesehen, wo Chris, der Medizinstudent auf dem Weg zu seinem Vorstellungsgespräch die Abkürzung durch den Wald nimmt. Hätte er besser nicht. Jedenfalls hätte ich keine Lust anzuhalten, an eine Tür zu klopfen und nach einem Glas Wasser zu fragen.
Es ist schier unglaublich, wie lange ich keine andere Seele treffe, kein Auto, nix und niemanden. Diese Art von Verlassenheit schätze ich sehr.
Das waren 70 km Back Country Endurowandern.
„Wie findest du diese schönen Pisten eigentlich immer?“„Keine Ahnung. Die waren da einfach. Ich hab die nicht speziell gesucht. Wenn man seinen Track abseits der großen Hauptstrecken quer durch die Pampa legt, dann stehen die Chancen gut, dass Kurviger viele Kilometer davon braun einfärbt: Schotterpisten!“
Am Nachmittag erreichen wir Nås, den Ort, in dem auch unser Camp ist. Das Dorf liegt am Västerdalälven, an der E18 und an der Västerdalsbanan, der Eisenbahnstrecke von Repbäcken nach Malung.
Nås Bevölkerungsdichte liegt bei 183 Einwohnern/km², aber nur, weil die 205 Nåsen damals bloß einen Quadratkilometer Platz hatten für ihr Dorf.
Dafür haben sie aber eine Brücke, eine Kirche und einen Campingplatz.
Ich biege auf den Campingplatz ein und tuckere im ersten Gang bis zu der urigen Blockhütte mit dem Welcome Schild. Im Baum hängt ein liebevoll gemachtes Vogelhäuschen und auf dem Rasen steht ein Tisch mit Decke und einer Blumenvase. Das Camp wirkt rundherum einladend.
In der Rezeption werde ich freundlich empfangen von Nicole, die aus Deutschland stammt und mit ihrem Mann gemeinsam dieses Camp führt.
Es gibt hübsche Stellplätze direkt am Ufer des Västerdalälven, aber ich stelle unser Zelt weit ab ins kurz geschnittene Gras.
Im Frühjahr hatte der Fluss die Wiese überflutet und nun gibt es ein kleines Mückenproblem.
Vier junge Männer in Heavy Metal Shirts, mit Bärten und großflächigen Tattoos steigen gerade wieder in ihren zum Wohnmobil umgebauten Sprinter und rauschen fluchend davon. „Nicht auszuhalten!“, ruft mir einer zu.
„Weichlappen!“, denke ich, wische eine Mücke aus den Wimpern und eine andere aus dem Ohr. Solch eine Mückenplage habe ich erst dreimal erlebt: 1986 mit meinem Freund Dixon, 2005 beim Schlafen im Wald ohne Zelt, beides in Schweden, und 2022 in Frankreich an der Dordogne.
Dabei sollten im Mai noch gar keine Mücken da sein. Die werden erst Mitte Juni erwartet, wenn es allmählich wärmer wird, doch heute sind bereits 25 C° und es ist schwülwarm.
Dabei verfügt das Camp sogar über ein hochmodernes, bodengestütztes Luftabwehrsystem gegen die Plagegeister. Auf dem Gelände stehen fünf Systeme aus je einem Feuerleitstand, der die Mücken mit Pheromonen anlockt und einem Gefechtsstand, der sie in einem Behälter gefangen nimmt. Die kleinen Klarsichtboxen sind jeden Morgen randvoll.
„Und Martin fährt die jeden Morgen raus in die Pampa und lässt die irgendwo wieder frei, näh?!“, frage ich mit großen Augen.
„Genau“, versichert Nicole und wirft mir einen Blick zu, den ich nicht recht deuten kann.
Gestern wurde im Camp Geburtstag gefeiert und es ist noch etwas von der Prinzessinnentorte übrig. Ob Pieps und ich vielleicht ein Stück möchten, lenkt sie vom leidigen Mückenthema ab.
„Oh ja, sehr gerne. Danke schön.“
Noch bevor ich ein Foto der Torte machen kann, ist Pieps bereits zur Tat geschritten.
Deshalb reicht es nur noch für das Nachher-Foto einer schwedische Prinzessinnentorte, Schwedens Klassiker für besondere Anlässe, eine Kuppeltorte mit Marzipandecke und leckerer Füllung. Meine Güte, ist die schmackhaft.
Wir sitzen mit anderen am Tisch auf dem Rasen, mampfen Torte, trinken Kaffee und unterhalten uns. Ein unbeteiligter Beobachter könnte den Eindruck gewinnen, wir gehörten schon lange dazu und nicht ahnen, dass wir erst vor einer Stunde hier gelandet sind.
Pieps trägt ein neues Kleid, das Tante Silvia extra für die Schwedenreise angefertigt hat. Daran ist eine Borte, auf der Dalahästar abgebildet sind, bunte Dalarnapferdchen, die, aus Holz geschnitzt das am stärksten typische Souvenir aus Schweden sind.
Mit den Mücken habe ich mich mittlerweile arrangiert, doch gegen Abend kommt die zweite Angriffswelle. Nicole stattet mich mit allem Nötigen zum Aufbau einer eigenen mobilen Luftverteidigung im Nahbereich aus: Einer Flasche Djungelolja und einer Anti-Mücken Räucherspirale.
Pieps machen die chemischen Kampfstoffe nichts aus und den Mücken weniger als es sollte.
Nur ich verliere von Zeit zu Zeit das Bewusstsein, aber nie für sehr lange und ansonsten ist es total gut verträglich.
In einem spontanen Entschluss stiefele ich entschlossen zur Rezeption und verlängere unseren Aufenthalt um eine weitere Nacht. Wollen doch mal sehen, wer länger durchhält, die Moskitos oder wir?