Inhaltsverzeichnis Dalarna 2024 Tag 1 Kiel - Oslo Tag 2 Oslo - Schweden Tag 3 Värmland - Dalarna Tag 4 Vansbro und ein Knytkalas Tag 5 Nås - Näs Bruk Tag 6 Avesta Tag 7 Tällberg am Siljansee Tag 8 Outback Dalarna Tag 9 Fäbod Fryksås Tag 10 Älvdalen Tag 11 Lofsdalen - Grövelsjön Tag 12 Femundsee, Norwegen Tag 13 Idre, Särna, Offroadcamp Tage 14-17 Heimreise und Fazit
Almost Heaven
Pieps und ich wurden eingeladen zum Knytkalas. Keine Ahnung, was das ist, aber
Nicole vom Camp erklärt es:
„Knytkalas, kurz Knytis, ist ein Fest, zu dem jeder was mitbringt.
Das ganze Dorf ist eingeladen.
Wir stellen Tische und Bänke auf die Wiese und jeder bringt was mit zum Essen. Es wird geredet, gegessen und manchmal auch gesungen. Um vier geht es los. Ihr seid auch herzlich eingeladen.“
Kyntis ist eine sehr schwedische Tradition und ich freu mich, dass wir dabei sein dürfen: „Danke schön!“
Das Fest beginnt erst am Nachmittag. Vorher bleibt Zeit genug für einen Ausflug nach Vansbro, den Hauptort der Gemeinde, so etwas wie eine Kreisstadt, ein Ort mit 2000 Einwohnern und jeder Menge nichts zu Sehen.
Der Tourismus ist dort noch nicht angekommen und deshalb will ich da hin. Nach meiner Theorie müsste dort alles echt sein, und nichts extra gemacht und hingestellt für Deutsche, Holländer, Amerikaner und Engländer, einige der häufigsten Touristen im Lande.
Vielleicht sieht man dort einen Teil von Schweden, wie es wirklich ist.
Ob das etwas Gutes ist, weiß ich noch nicht, aber ich möchte es zumindest einmal kennenlernen. Ich sattele die Honda und wir fahren los.
Orte wie dieser sind mitunter die letzte Gelegenheit, in ein Reiseland zu blicken, ohne nur das zu sehen, was sie einen sehen lassen wollen.
Wenn man nach Hallstatt fährt, zum Mont Saint Michel oder an den Gardasee, dann weiß man ziemlich genau, was einen da erwartet. Es steht alles im Reiseführer.
Man fährt irgendwo hin, um genau das zu sehen, von dem man weiß, dass es dort ist, und man will auch so ein Foto machen, wie das im Reiseführer.
Völlig sinnlos, aber so machen es Touristen, und ich gehöre dazu.
Es sind 30 km bis Vansbro, das am Västerdalälven stromaufwärts liegt.
Der Fluss ist noch weitgehend naturbelassen, nur weiter oben im Skanden, dem Skandinavischen Gebirge gibt es einige Stauseen. Vielleicht ist der Strom in Schweden auch deshalb um einiges günstiger als zuhause in Deutschland.
Der Fluss war früher von großer Bedeutung für die Holzindustrie der gesamten Region, das war im 19. Jahrhundert, zur Hochzeit der Flößerei.
Später wurde es wirtschaftlicher, das Holz mit der Eisenbahn und dem LKW zu transportieren, und spätestens ab den 1980er Jahren war die Flößerei bloß noch Folklore.
Doch einmal pro Jahr richtet sich die Aufmerksamkeit wieder auf diesen Fluss, wenn das Vansbrosimningen stattfindet, ein Schwimmwettbewerb, der jedes Jahr mehr als 10.000 Teilnehmer anzieht. Die müssen zuerst zwei Kilometer im Vanån stromabwärts schwimmen und dann einen Kilometer im Västerdalälven gegen die Strömung.
„Die haben echt 'ne Meise, die Schweden.“, denke ich kopfschüttelnd und fahre in den Ort hinein und direkt zum Bahnhof, denn die Geschichte von Vansbro ist eng mit der Eisenbahn verknüpft, auch wenn hier inzwischen schon lange kein Zug mehr fährt. Die Strecke wurde stillgelegt und der einstmals schmucke Bahnhof steht leer.
Erstaunlich finde ich die sauberen, nicht eingeschlagenen Fenster und die völlige Abwesenheit von Graffiti. Keine Zerstörung und kein Vandalismus.
Kein Graffiti!
Wie weit hinter dem Mond können Menschen leben?
Warum sollte überhaupt irgendjemand nach Vansbro fahren, in eine Stadt, die dafür berühmt ist, dass hier früher mal die Eisenbahn gefahren ist und es jedes Jahr einen Schwimmwettbewerb gibt?
Vansbro ist keiner jener Orte, die für Touristen aufgehübscht, hergerichtet und schön gemacht wurden, wo Busse aus ganz Europa Station machen und Reisende auf die Geschäfte einer malerischen Innenstadt loslassen. Sie würden eine herbe Enttäuschung erleben, denn die Värnsvägsgatan, die High Street, ist kein bisschen malerisch und bietet keinen einzigen Souvenirshop. Eine Pizzeria, einen Dönergrill, einmal Sushi, eine Apotheke und einen leerstehenden Bahnhof ohne Graffiti.
Der Leerstand ist nicht zu übersehen und erzählt seine eigene Geschichte. Viele der einfachen Häuser sind ehemalige Geschäfte mit ehemaligen Schaufenstern. In einem hat sich der örtliche Fliesenleger eingerichtet und eine Toilette mit Spülkasten ins Fenster gestellt. Das soll der Tristesse die Spitze abbrechen, doch besonders gut funktioniert es nicht.
Online kann man sehen, was Grundstücke und Häuser in Vansbro kosten. Ein Haus mit 4 Zimmern und 1.220 m² Grund geht hier für 50.000 € weg. Dafür gäbe es in Kiel ... gar nichts. Selbst die schmucke Kapelle aus Holz brachte vor drei Jahren nur 500.000 Kronen, ungefähr 48.000 €.
Der Ort endet an einem verlassenen Gewerbegebiet am Rande der E16. Ein riesiges Banner wirbt für die Anmietung freier Räume, Lediga Lokaler von 1000 m² bis 6000 m².
Man möge Martin anrufen.
Ich wende und fahre zurück in den Ortskern, der klein genug ist, um auch ohne Stadtplan jede Staße abfahren zu können. Zuletzt lande ich auf dem Parkplatz vorm örtlichen Supermarkt. Auch er hat bessere Tage gesehen, aber vielleicht stimmt nicht einmal das, doch zumindest die Dalapferde am Eingang bräuchten dringend eine Auffrischung.
Als ich mit dem Einkauf aus dem Laden komme, ist vom Parkplatz laute Musik zu hören.
Ein halbes Dutzend schrottreifer Amischlitten stehen dort, Jungs mit Caps und kurzen Hosen, Mädchen mit blonden Haaren und kurzen Röcken, dazu Rock'n Roll und große Kofferräume voller Bier. Swedish Subculture of Lowriders and Pilsnerbil, Bierautos.
Locally hated steht auf einem der Autos, die mit großem Aufwand liebevoll hergerichtet sind. Sie können ihr Fahrwerk auf Knopfdruck absenken und die Karosserie funkensprühend über den Asphalt schleifen lassen.
Die Autos sehen rattig aus, aber der Look ist gemacht, tatsächlich sind sie technisch perfekt aufgebaut.
Ein schrottreifer Amischlitten schrammt auf dem Asphalt an mir vorbei.
„May I take photos?“ Die Jungs zeigen Daumen hoch.
„Endlich normale Menschen!“
Ich war selbst in die Autoszene verstrickt.
Meine waren Pickups und unsere Gang die First German Pickup Friends.
Wir sind durch Hamburg gecruist, haben im Autokino angegeben und sogar Power-Towing gemacht, Tauziehen mit Autos.
Eines Nachts am Strand von Rømø habe ich meinen liebevoll aufgebauten Pickup USA-1 ziemlich verbogen in dem irren Versuch, einen Chevy K10 Small Block wegzureißen.
Ich hatte komplett unterschätzt, wieviel Power der Chevy durch Lachgaseinspritzung hatte. Der Rahmen meines Autos war verzogen und ich bin gerade noch nach Hause gekommen.
Doch die Show war es wert. War sie immer.
Heiße Tränen steigen auf, während ich den Kids zusehe, ihrer fröhlichen Unbeschwertheit und der Musik lausche.
Erinnerung an eine andere Zeit.
Alles lag da noch vor mir, 41 Dienstjahre, Verletzungen, Unfälle, eine Scheidung, das Rübermachen. Ein ganzes Leben. Und nun sitze ich in Vansbro auf meiner Enduro und bin plötzlich 62 ?
Alt? Vielleicht ein bisschen, aber noch nicht weg.
Der Titanauspuff knallt, als ich über den Parkplatz heize und an der Ausfahrt kurz Gas wegnehme, bevor ich mit Power aus Vansbro hinaus in die Landschaft düse.
Der Ausflug hat sich gelohnt, schon wegen der Begegnung mit den Kids.
Vansbro zeigt Schweden abseits der Prachtstraße Kungsgatan. Es erzählt eine Geschichte von ganz normalen Menschen, aber auch von Arbeitslosigkeit und unbezahlten Rechnungen. Wer vor seinem Besuch nur das verklärte Schwedenbild Bullerbüs vor Augen hat, für den ist Vansbro regelrecht "ein Schlag in die Fresse".
Ich spüre, dass ich Dalarna mag, mit jedem verlassenen Kilometer Piste und jeder nicht-Sehenswürdigkeit etwas mehr. In den nächsten Wochen wollen wir jede Ecke davon ansehen. Besonders gespannt bin ich auf den Norden Dalarnas, dagegen ist diese Gegend noch overcrowded.
Zurück im Camp ziehe ich mich um und gehe erst einmal nicht duschen.
Seit Pieps kapiert hat, was Knytis ist und wir dazu eingeladen sind, kennt die Maus nur noch ein Thema:
„Bei ein Büffee darf man ja so viel nehm', wie man will, näh?! Nur, wie oft daa'f man einklich gehn?“„Bis einem schlecht ist, Mäuschen. Bis einem schlecht ist!“
Ich ahne, worauf das hinausläuft.
Inzwischen treffen bereits die ersten Gäste zum Knytis ein.
Einige haben Kühltaschen dabei und stellen Schüsseln auf den Tisch, darunter auch zwei mit dem berüchtigten Surströmming, fermentiertem Hering.
Ich bin nervös, weil ich niemanden kenne, kein Wort schwedisch spreche und in keiner Weise dazugehöre, außer, dass ich hier zelte.
Doch entweder gehe ich jetzt oder nie: „Showtime, Babe!“, sage ich halblaut, schnappe Pieps und die Kamera und wandere hinüber zu den Tischen.
Nicole und Martin, die Campchefs kenne ich schon, und Anders, was Andersch ausgesprochen wird, den einzigen Dauercamper des Camps und sehr sympathischen Menschen.
Nicht nur für einen Dauercamper
Im Nu bin ich mittendrin, neben mir Anders und Pieps, gegenüber eine Familie aus Holland, die nach Dalarna gezogen ist. Sie haben das alte Pensionat gekauft und zum Wohnhaus für die ganze Familie umgebaut. Gespräche schwirren hin und her, man hört Englisch, Schwedisch und Holländisch, es wird gegessen und gelacht, und ohne es überhaupt zu bemerken, amüsiere ich mich prächtig.
„Should we go to the buffet now?“, fragt Anders, „maybe, you want something to eat?“„That's a good Idea“, sage ich. Bisher habe ich mich damenhaft zurückgehalten. Außerdem bin ich unsicher, ob dieses Surströmming nun ein Genuss oder eine Mutprobe ist.
Die Gäste haben das Buffet wunderbar hergerichtet. Kleine Schilder im Essen geben den Gerichten Namen. Mesost Rulle sind eine Art gerollter Pfannkuchen mit Mesost gefüllt, einem speziellen schwedischen Käse aus eingekochter Molke.
Links und rechts davon zwei Schalen mit dem - im wahrsten Sinne des Wortes - berüchtigten Surströmming. Laut Wikipedia riecht der fermentierte Hering „intensiv, faulig und stinkend".
„Der Duft ist tatsächlich nichts für Anfänger“, denke ich, während ich mir eine kleine Anstandsportion auf einen Pappteller lege.
Hering ist einer meiner Lieblingsfische, und Sprotten esse ich sogar mit Kopf, aber dieser hier überfordert mich. Pieps dagegen entdeckt gerade ihr zwölfundneunzigstes Lieblingsessen und schaufelt sich den fauligen Fisch in die Figur, als wenn es keinen Mundgeruch gäbe.
Es gibt zahlreiche Anekdoten zu diesem besonderen Hering. Im Kern handeln alle davon, dass man die Konservendosen mit Surströmming tunlichst nur im Freien öffnen sollte.
Auf YouTube finden sich Mutproben, in denen sie solch eine Dose im Auto aufmachen. Keine gute Idee, falls man den Wagen jemals wieder verkaufen will.
Nach dem Essen wird gesungen. Ein Mann spielt auf der Gitarre und seine Frau singt dazu. Die Beiden sind Camper aus einer der Hütten. Heute Morgen sind sie noch auf einer Beerdigung aufgetreten. Die Klänge seiner Gitarre und ihre warme Altstimme dazu sind ganz wunderbar.
Wir sitzen auf der Wiese am Västerdalälven, meine Enduro und das Zelt in Sichtweite, es wird gegessen und getrunken, dazu die Musik.
Die ersten Zeilen von Country Roads erklingen.
"Almost Heaven, West Virginia
Blue Ridge Mountains, Shenandoah River
Life is old there, older than the trees
Younger than the mountains, growin' like a breeze
Country roads, take me home
To the place I belong
West Virginia, mountain mama
Take me home, country roads
All my memories gather 'round her
Miner's lady, stranger to blue water
Dark and dusty, painted on the sky
Misty taste of moonshine,
teardrop in my eye"
Meine Güte, denke ich, mehr kann man vom Leben nicht verlangen. Ich bin rundherum glücklich und Pieps ist es auch, was manchmal ein und dasselbe ist.
Gegen 20 Uhr, wie auf ein geheimes Zeichen, erheben sich die Dorfbewohner, sammeln ihr Geschirr ein und verabschieden sich. Knytkalas ist zu Ende. In der Einladung stand „Von 16 - 20 Uhr“, und höflich, wie die Schweden sind, gehen sie pünktlich nach Hause.
„Und das solltet ihr nun auch tun.
Wir müssen jetzt Zähne putzen!
Gute Nacht, Welt.“