Die letzte Fahrt der Nordstjernen
Der Eisbärensalon der MS Lofoten hat sich über Nacht in ein Feldlager verwandelt. Die Kids haben Sessel und Bänke zusammengeschoben und liegen darauf eingemummelt in ihren Schlafsäcken.
Auch das ist Hurtigruten. Die Passagiere, die nur eine Nacht an Bord bleiben, richten sich in den Lounges für die Nacht ein. Kabinenzwang gibt es nicht und es wird toleriert, dass die Salons zumindest kurzfristig zu Schlafsälen umgestaltet werden. Für Passagiere wie uns, die die volle Reise gebucht haben, ist das mal mehr, mal weniger angenehm, aber die Studenten sind ok und hinterlassen alles wieder sehr ordentlich.
Am Mittag erreichen wir
Tromsø, das Tor zur Arktis. Wir haben vier Stunden Aufenthalt und alle Passagiere verlassen das Schiff, um sich die Stadt anzusehen.
Tromsø ist nicht nur berühmt für die nördlichste Universität der Welt, sondern auch für die
Eismeerkathedrale, ebenfalls eine nördlichste der Welt, aber so weit oberhalb des Polarkreises ist irgendwann alles "Nördlichstes der Welt".


Es werden einige sagenhafte Landausflüge angeboten, darunter eine Husky Safari. Claudia, Pieps und ich machen uns auf eigene Faust zu Fuß auf den Weg, die Stadt zu erkunden. Auch in Tromsø ist Claudia der perfekte Guide und führt uns auf direktem Weg zum
Polarmuseum der Universität.

Es ist ein kleines Museum in einem hübschen, roten Holzhaus direkt am Hafen. Ich bin auf Anhieb begeistert von der dichten, authentischen Atmosphäre des Museums. Viele Exponate der berühmten Polarexpeditionen sind hier zu sehen und spannende Geschichten zu bestaunen. Sofort ist meine
Abenteuerlust geweckt.

Gleich im ersten Saal findet sich der Nachbau einer Trapperhütte. Die Stimmung wirkt so echt, dass ich ganz fasziniert bin. Unter Glas ist das original Reisetagebuch des Trappers Wilhelm Nilsen ausgestellt, der 1910 in dieser Hütte überwintert hat.

Er hat mit Bleistift in feiner Schreibschrift in ein Moleskine geschrieben. Ich halte mein
eigenes Tagebuch daneben und sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich. "Ja," erläutert Claudia, "Bleistift ist der einzige Schreibstift, der immer funktioniert und das sogar in der Arktis bei -40°." Das Polarmuseum in Tromsø begeistert mich und ist ganz sicher einen Besuch wert.
Vom Museum aus gehen wir über Nebenstraßen zur
Storgata, der Einkaufsstraße. Auf den ersten Blick erscheint sie fremdartig und exotisch. Ganz anders und viel interessanter als die Holstenstraße in Kiel. Es sind überwiegend Holzhäuser mit kleinen Schaufenstern.
Überall liegen Schnee und Eis. Die Autos und sogar die Fahrräder haben Spikes in den Reifen und ich bin erstaunt, wie schnell eine Mutter auf dem vereisten Radweg mit Fahrrad und Kinderanhänger unterwegs ist.
Dann im Zentrum die Ernüchterung. Dicht nebeneinander finden sich
Vero Moda, H&M, Cubus, Intersport und ein Burger King. Ich bin richtig sauer und enttäuscht. Entkommt man diesen Ketten denn wirklich nirgends mehr auf der Welt, nicht einmal in der Arktis? Sehen alle Einkaufsstraßen dieses Planeten inzwischen gleich aus?

Vor dem Fenster eines Spielwarengeschäfts bleibt Pieps stehen und ist fasziniert von den wirklich wunderschönen Spielsachen. Sie ist kaum noch zu beruhigen und hätte so gerne eine Puppe, aber heute ist Sonntag und der Laden ist geschlossen. Ich kann sie ja verstehen und nur mit dem Versprechen auf einen Besuch bei Schönfelder in Kiel bekomme ich die Kleine ohne Geschrei vom Schaufenster weg.

Unterwegs posiere ich noch kurz vor dem Appleshop in Tromsø und informiere mich über neue Hardware. Eigentlich totaler Jungskram, aber vielleicht kann ich meinem Chef dafür zwei Überstunden aus dem Kreuz leiern. Immerhin gehört es zu
meinem Job zu wissen, was in der Applewelt vorgeht. Lustig, wie die hier Apple schreiben...

Wir kehren zurück zum Schiff ohne etwas gekauft zu haben. Es ist durchgängig unter 0°, aber es ist windstill und eine trockene Kälte, in der man nicht so leicht friert. Mit den dicken Strickstulpen über der Strumpfhose, dem Minikleid und meinen fake UGG-Boots bin ich warm genug angezogen.

An diesem Abend wird im Speisesaal ein großes Meeresfrüchtebuffet statt des üblichen 3-Gänge Menüs serviert. Ich liebe Fisch und sämtliche Meeresfrüchte und dieses Buffet übertrifft alles, was ich bisher zuvor an Meeresfrüchten gegessen habe
Trotzdem wird es ein richtig doofer Abend. Mehr als zwei Seiten habe ich darüber mit wütender Hand in mein Reisetagebuch geschrieben, aber ich will den Ärger nicht noch einmal durchleben und gebe nur die Kurzfassung:
Der Speisesaal ist überfüllt, so dass wir uns zu einem älteren englischen Ehepaar an den Tisch setzen. Wie immer beginne ich einen netten Small Talk, erzähle, scherze, lobe, frage und merke erst viel zu spät, dass ihr Husband sich vor Abscheu über unsere Anwesenheit fast übergeben muss.
Mein erster Gang zum Buffet bleibt auch mein letzter. Ich bin so gekränkt, dass mir der Appetit vergangen ist und Claudia empfielt ebenfalls, die Beiden zu erlösen und zu verschwinden. Heute abend habe ich mich zum ersten Mal dafür geschämt,
Transgender zu sein.
Später am Abend steht uns ein ganz besonderes Ereignis bevor. Wir werden der
MS Nordstjernen begegnen, dem einzigen aktiven Schiff der Hurtigruten, das noch älter ist als unsere MS Lofoten.
Die Nordstjernen befindet sich heute auf ihrer letzten Fahrt. Nach ihrer Rückkehr wird sie in Bergen außer Dienst gestellt. 1.552 mal ist das in die Jahre gekommene Schiff von Bergen nach Kirkenes und zurück gefahren und hat dabei 7,4 Millionen Kilometer zurückgelegt.
Die Mannschaft der Lofoten hat für diesen kurzen Moment, in dem die beiden alten Schiffe sich in der völligen Dunkelheit des nördlichen Polarmeers begegnen, eine kleine Party vorbereitet. Gammle Damer er best, Alte Damen sind die Besten, steht auf einem großen weißen Bettlaken, das an der Reling hängt. Die Offiziere stehen mit roten Nebelkerzen bereit und die Küchenmannschaft hat Topfdeckel und Kochlöffel zum Lärmen an Deck geschleppt.

Gespannt stehe ich an Deck und schaue voraus in die schwarze Nacht. Dann ganz allmählich erscheinen aus völliger Dunkelheit die Positionslichter der MS Nordstjernen. Nebelkerzen werden gezündet und mit großen Suchscheinwerfern tasten die beiden Schiffe sich im Dunkel der Nacht gegenseitig ab. Die Typhoons dröhnen dazu dumpf und ohrenbetäubend laut. Für einen Moment sind wir uns ganz nahe in der Einsamkeit des Polarmeers und ich empfinde zum ersten Mal, auf welcher winzigen Nussschale wir unterwegs sind.

Genau vier Minuten nach dem ersten Auftauchen der Positionslichter ist die Nordstjernen wieder in der Dunkelheit verschwunden. Die Party ist vorbei. Diese beiden Schiffe werden sich nie wieder auf hoher See begegnen, wie sie es soviele Jahre alle paar Tage getan haben.
Jetzt ist die
MS Lofoten das dienstälteste Postschiff der Hurtigruten und auch sie soll in wenigen Jahren außer Dienst gestellt werden. Dann bleiben nur die großen, modernen Casinodampfer mit Showprogramm und Black Jack Tischen. Wer noch einmal auf einem der alten Postschiffe fahren möchte, sollte das nicht mehr auf die lange Bank schieben.
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