Am Limfjord
Die Nacht ist trocken und so mild, dass ich im offenen Zelt schlafe und den Daunensack nur als leichte Decke nehme. Am Morgen fehlen sogar die winzigen Tautröpfchen, die sonst funkelnd am Zelt kleben. Wann hatten wir zuletzt solch einen September?
In der Rezeption zahle ich 75 Kronen pro Nacht und weitere 110 DKK für die Campingkarte. Der Campingpass ist in Dänemark verpflichtend vorgeschrieben, aber inzwischen denke ich nicht mehr über die unnütze Geldausgabe nach und zahle ohne Murren und Knurren. Ich hab schon mehr Geld für sinnloseres Zeug ausgegeben.
Ein schöner Campingplatz, gerade in der Nebensaison, denke ich, als ich das Motorrad auf die Straße lenke und im dritten Gang aus Bork Havn hinaus fahre.
Heute stehen keine Sehenswürdigkeiten auf meiner Route. Im Grunde verlege ich bloß nach Norden in Richtung Skagen und so bin ich hoch erfreut, als kurz vor Lemvig ein verwittertes Schild mit der Aufschrift Bunkermuseum am Straßenrand auftaucht.
Nach 300 Metern liegt der Bunker vor mir im Unterholz, wie ein verendeter Dinosaurier. Ein bösartig wirkender Betonklotz mit zwei finsteren Zugängen. Allein die bunte Hinweistafel und die fröhlichen Sonnenflecken wollen so gar nicht dazu passen. Ich gehe hinein.
Fünf Kilometer weiter erreiche ich Lemvig, eine Hafenstadt von knapp 7.000 Einwohnern am Südufer des Limfjords. Er durchschneidet das Land von der Nordsee bis zur Ostsee, was die Spitze Dänemarks zu einer Insel macht, Vendsyssel-Thy oder Nordjütische Insel.
BJARNES FISK OG FISKETERIA ist das Fischgeschäft am Limfjord. Die Kutter legen an der Rückseite des Ladens an und vorne am Tresen wird der Fisch zu den leckersten Gerichten verarbeitet. Alles, was Bjarne dazu braucht, ist eine Batterie Hochleistungsfritteusen, ein paar Zentner tiefgefrorener Pommes Frites und eine Armada von Mayonnaiseeimern. Vielleicht ein, oder zwei Zitronen und einen Salatkopf für die Dekoration. Ich liebe den Laden!
Aber nicht heute: Kurz vor uns hat ein Reisebus eine Kohorte beiger Sandalenträger abgesetzt. Die stehen jetzt vorm Tresen und studieren mit in den Nacken gelegten Köpfen die Speisekarte an der Wand. Bis die abgegessen haben, sind Pieps und ich erledigt.
Ein Stückchen weiter steht Engens Grillrestaurant, ein klassischer Schnellimbiss. Ich bestelle ein Ribbesandwich und für Pieps einen Risted Hotdog. Beides wird vor unseren Augen frisch zubereitet und wir sehen fasziniert zu, wie das Brötchen geschnitten, der Salat gestreut, das Fleisch eingelegt und die Mayonnaise gespritzt wird. Fastfood hat - besonders in Dänemark ‐ eine ganz eigene Kultur.
Ich trage die Beute zur Kasse und bin kurz darauf wieder unterwegs. Die Gegend ist ganz erstaunlich, eine typische Moränenlandschaft. Die Straße steigt an und erreicht schließlich Hygum Bakker, einen gewaltigen Hügel von 60m Höhe. Was der Nanga Parbat für den Himalaya und das Matterhorn für die Schweiz, ist Hygum Bakker für Jütland. Von wegen es gibt keine Berge im Norden. Pah...!
Als die Fähre anlegt, darf ich als Erste aufs Schiff. Ich habe Greeny gerade an der Bordwand abgestellt, als der gewaltige Monstertruck über die Laderampe rollt. Das Schiff taucht deutlich ein Stück ein. Mehr Autos kommen nicht und kurz darauf legen wir ab.
Die Kühe sehen mir aufmerksam entgegen und beim Näherkommen entdecke ich, dass es keine Kühe sind, das sind Stiere. Der Eine hebt den Kopf und guckt zu mir rüber. Er sieht aus wie der Osborne Stier, bloß ohne Geweih. Ich mache ein Foto und trete den Rückzug an.
Eine Sekunde später kullert mein Helm an mir vorbei.
"Oh, no!" Der Wind hat Greeny umgeweht und nun liegt sie kopfüber in der Böschung, die Räder obszön in die Luft gestreckt. Das ist so eine Sache, die ich nicht brauche, denke ich und mache mich daran, die Enduro zu bergen.
Obwohl das Motorrad vollgetankt nur 138 Kilo wiegt und vielleicht 20 Kilo Gepäck drauf sind, ist es völlig unmöglich die Maschine allein aus dem Graben zu heben. Das schaffe ich niemals. Ich löse sämtliche Gepäckstücke vom Motorrad und lege sie neben der Straße ins Gras. Ein Taxi hält an und ein knorriger alter Herr steigt aus. Er trägt eine graue Stoffhose und ein blütenweißes Oberhemd. Ein dänischer Taxifahrer.
Ohne ein einziges Wort zu sagen steigt er in den Graben und richtet die Maschine fast alleine wieder auf. Wie kann ein einzelner Mann, dem man es dazu überhaupt nicht ansieht, so stark sein?
"Danke schön, das war lieb von dir", sage ich voller Dankbarkeit.
"Kein Problem", sagt er, steigt in sein Taxi und braust davon. Die ganze Aktion inklusive Foto machen, Motorrad umkippen, Bergung und neu Aufpacken hat keine 10 Minuten gedauert. Ich steige die Böschung hinunter aufs Feld und hole meinen Helm. Mist, das Visier ist abgesprungen. Die Halterung hatte ich schon einmal repariert, aber nun sind zu viele der kleinen Nubsis abgebrochen und das Visier ist nur noch an einer Seite fest. Es steht als schmaler Streifen zerkratztes Plastik waagerecht nach vorne ab.
Ich klebe das Visier rundherum mit Gewebeband am Helm fest und bin startbereit. Dem Motorrad ist nichts passiert, ich muss nur den Spiegel neu einstellen und fahre weiter. Jetzt brauche ich entweder ein neues Visier, eine Motorradbrille, oder einen neuen Helm.
Ich parke Greeny vor dem Schaufenster und gehe mit dem Helm in der Hand in den Laden. Roller und Motorräder stehen sauber aufgereiht nebeneinander, hinter dem Tresen Regale voller Zündkerzen, Schmierstoffe und Ersatzteile. Ein richtiges Motorradgeschäft.
Im Laden steht ein älterer Mann in einer Jeansjacke. Der linke Ärmel ist leer und auf der Hälfte hochgebunden. Noch ganz aufgeregt von dem blöden Missgeschick lege ich den Helm auf den Tresen und frage ihn, was man da machen kann. Gibt es dafür noch ein Ersatzvisier?
Die Antwort kenne ich im Grunde selbst, denn ich suche seit Jahren nach einem neuen Visier für diesen Helm und konnte keines auftreiben. Nein, ein Visier gibt es nicht mehr, bestätigt er mir. Nun, dann kaufe ich eben einen neuen Helm, auch wenn meiner erst 12 Jahre alt ist.
Ich sehe mir das Regal mit den Helmen genauer an. Der da, der könnte mir gefallen. Ein weißer Helm mit Pinlock Visier, klappbarem Sonnenschutz und Schnellverschluss. Dabei ist das Einzige, das mich wirklich interessiert, das Muster: "Haben Sie den auch in XXL?"
Der Motorradhändler schüttelt ungläubig den Kopf und nimmt eine Größe S aus dem Regal. Diesmal schüttele ich ungläubig den Kopf, obwohl ich mich geschmeichelt fühle. Drei Helme und unzählige ausgerissene Haare später, stülpe ich mir endlich eine XXL auf den Kopf. Der Helm passt auf Anhieb und sitzt wunderbar.
Was mache ich mit meinem alten Helm? Mitnehmen kann ich ihn nicht und wozu auch? Mit Bedauern lasse ich das gute Stück auf dem Tresen zurück. Er war so wunderbar mit meinem MakeUp eingeschminkt. Allein durchs Aufsetzen war die Foundation fertig. Ich brauchte nur noch im Rückspiegel die Wimpern zu tuschen und war startbereit.
Fünf Minuten später rolle ich auf den Platz vor der Rezeption von Thisted Camping. Der Mann an der Kasse, ein gemütlicher Typ mittleren Alters, begrüßt mich gut gelaunt und hat volles Verständnis, dass ich zum Einchecken erstmal ein Bier trinken möchte. Er nimmt eine Flasche Carlsberg aus dem Kühlschrank hinter sich und schiebt sie über den Tresen.
Nachdem diese Formalität erledigt ist, zücke ich lässig meinen nagelneuen Campingpass, trage meine Daten in ein Formular ein und bezahle für die Übernachtung und das Bier. Am Boden des Carlsberg mache ich mich auf, einen Platz für mein Zelt zu suchen.
Thisted Camping grenzt direkt an die Steilküste und ich finde einen wunderbaren Platz mit Blick auf den Limfjord. Jetzt in der Nachsaison sind nicht mehr als ein, oder zwei Dutzend Camper auf dem großen Platz verteilt.
Die kleine Maus ist ein wenig enttäuscht, weil das Kissen so prall aufgepumpt und sie zu leicht ist, um in Schwung zu kommen, aber mit Mamas Gewicht zur Hilfe fliegen wir bald kreuz und quer durch die Luft. Die größte Kunst ist es, nicht daneben zu landen.
Man muss kein Raketentechniker sein, um von selbst darauf zu kommen, dass ein Steak dieser Größe für läppische 59 Kronen kein Gourmetfleisch sein kann, aber dass der Lappen dermaßen zäh ist und sich kaut wie Gummi, ist doch eine Überraschung. Selbst Pieps fällt das auf, auch wenn es ihr im Grunde völlig egal ist.
Zufrieden sitzen wir auf der Terrasse vorm Laden und genießen unseren Nachtisch.
Wir verschwinden schon früh in den Federn. Ich lese auf dem Kindle in meinem Harry Potter und Pieps hat ein Büchlein, in dem es um einen Maulwurf geht. Darin wird das Häuschen der Maus vom Regen zerstört und der Maulwurf und alle seine Freunde helfen der Maus dabei, ein Neues zu bauen. Pieps ist ganz hingerissen von der Geschichte.
Sekunden später bin ich wieder fest eingeschlafen...
zum nächsten Tag...
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Das große Erlebnis des Tages waren das umgekippte Motorrad und der neue Helm. Dabei habe ich festgestellt, dass die Dänen exterm hilfsbereit sind, denn noch andere haben angehalten, als das Motorrad längst wieder aufrecht stand: "Brauchs' du Hilfe?"