Die Brücke
Eine verwunschene Stille liegt über dem Platz. Bis zu dem Moment, als Pieps mich entdeckt, wie ich mit der Brötchentüte zurück zum Zelt komme. Pieps kennt nur zwei Aggregatzustände: Full Power, oder Tiefschlaf selig sabbernd. Ich bin heilfroh, dass ich nicht unsere Nachbarn bin.
Irgendjemand, der diese "sagenhaft gute Krimiserie" noch nicht gesehen hat? Auf der Öresundbrücke wird eine Leiche gefunden. Ein dänischer Inspektor und die schwedische Kriminalkommissarin Saga Norén suchen gemeinsam den Mörder. Saga ist ziemlich tough, doch leider besitzt sie das Einfühlungsvermögen einer Abrissbirne. Ich mag Saga. Tolle Frau. Gegen sie wirke selbst ich total normal.
Unvergessen die Szene, in der Saga eine Todesnachricht überbringt, was augenscheinlich nicht ihre stärkste Seite ist:
"Musste er sehr leiden?"
"Ja."
Wer die Serie noch nicht kennt: Unbedingt anschauen! Sie läuft derzeit noch bei Netflix und auf Amazon Prime.
In Kopenhagen fährt man in den Öresundtunnel unter dem Meer. Nach vier Kilometern kommt man auf der Insel Peberholm wieder ans Tageslicht und erst dort geht es auf die Brücke.
Der Zugverkehr rast in einer benachbarten Tunnelröhre dahin und oben auf der Brücke fahren die Züge eine Etage unter den Autos. Auf dem Motorrad bekomme ich davon wenig mit, aber es ist dennoch unglaublich. Welch ein Bauwerk!
Ich fahre auf die Brücke und 57 Meter tiefer leuchtet blau das Meer. Eine Autobahn, die an Seilen vom Himmel herab über dem Meer hängt. Bei diesem Wetter macht es Spaß über den Öresund zu fahren.
Normalerweise macht mich das schrecklich nervös: Wo muss ich hin? Wie geht das? Welche Spur? Und wenn mir das Ticket wegweht? Was, wenn es ungültig ist? Oder das Motorrad ausgeht und nicht mehr anspringt?
Bitte fahren Sie an der Öresundbrücke in die blaue Spur und geben die externe Ticketnummer in den Check-In Automaten ein. Sie befindet sich auf Ihrer als PDF Datei versendeten Buchungsbestätigung.
Ich habe alles dabei. Doppelte Sicherheit: Zwei Ausdrucke des Tickets und zwei der pdf-Datei. Beides wasserdicht verpackt. Eine in der Jacke, die zweite im Tankrucksack. Sicher ist sicher.
Mit dem lässigen Selbstbewusstsein des langjährigen Globetrotters rolle ich auf der Blue Lane an die Schranke heran. Der Counter ist nicht besetzt. Die blaue Spur ist ein reiner Automatenschalter. Kein Problem, denke ich. Entweder bist du der überlegene Typ, der mit allem klarkommt, oder bloß ein weiterer dummer Touri, der keine Ahnung von der Welt da draußen hat.
"Take the blue lane and scan your ticket." Es steht sogar auf Englisch da. Und ich take the Blue Lane und ich scan my ticket und Nichts!
Die elende Schranke bleibt zu. Ich spüre, wie mir schwitzig wird unter den Armen. Auf einem Display, so groß wie mein iMac, steht:
"Ticket invalid for this line."
Auf den grünen Spuren links und rechts fahren Autos zu Dutzenden an mir vorbei. Hinter mir steht keine Sau. Ich bin die Einzige auf der Blue Lane. Manchmal glaube ich, meine Krippe stand auf einer Wasserader.
Ich drücke auf einen Knopf mit dem Hinweis: "Call for Assistance." Nach einer Weile kommt eine Frau in Uniform quer über den Platz gestiefelt.
Oh, oh, die ist nicht in Partylaune. Das sieht man sogar von hier aus. Was hab ich bloß falsch gemacht?
Zigmal pro Tag strandet ein Biker vor der geschlossenen Schranke und drückt auf diesen Knopf. Man könnte jede, wirklich jede andere Spur nehmen. Nur eben nicht die blaue.
Die E20 führt im weiten Bogen um Malmö herum. Ich bin froh, nicht durch die City fahren zu müssen. Malmö ist die drittgrößte Stadt Schwedens und kein angenehmer Ort. Aus Bullerbü wurde Ballerbü, schrieb der STERN.
Das Auswärtige Amt rät in den Reise- und Sicherheitshinweisen für Schweden: "Bandenkriminalität mit vereinzelten gewaltsamen Auseinandersetzungen gibt es in manchen Stadtteilen von Stockholm, Göteborg und Malmö. Auch Autoeinbrüche und Überfälle auf Wohnwagenbesitzer und Wohnmobile sind keine Seltenheit."
Den Ruf als extrem sicheres Reiseland ohne nennenswerte Kriminalität verdient Schweden wohl nicht mehr, aber da, wo Pieps und ich zelten, spielt all das noch keine Rolle.
Die Strecke ist öde, aber es tut gut, endlich ein paar Kilometer zu machen. Das Fahren in Schweden ist total entspannt. Gut ausgebaute Straßen, wenig Verkehr, keine Ampeln, keine Ortsdurchfahrten. Bei diesem Wetter sehr schön, aber bei Regen die Hölle: Keine Ortsdurchfahrten. Ewige Kilometer nasser Wald ohne jede Aussicht auf einen trockenen Unterstand, Kaffee oder Croissants.
Schließlich komme ich nach Sjöbo. Der Ort steht sogar im Guinness-Buch der Rekorde, weil die Locals vor Jahren hier den weltgrößten Spettekaka gebacken haben, eine Art billiger Baumkuchen aus Eiern, Kartoffelstärke und Zucker. Sieht schön aus, schmeckt wie Knüppel aus dem Sack und wird mit der Säge geschnitten. Mit der Säge!
Ich tanke beim örtlichen Volvo-Händler und bin einmal mehr verblüfft über den Verbrauch der Africa Single: 2,86 Liter auf hundert Kilometer. Mit dem 10 Liter Tank komme ich über 300 km weit.
Wir bleiben in Sjöbo. Orebackens Camping liegt am Ortsrand neben dem Freibad. Der Platz ist nicht meine erste Wahl, aber einen anderen habe ich in der Nähe nicht gefunden.
"One small tent, a motorbike, the mouse and me", checke ich ein. Die Frau an der Kasse ist mega freundlich und erklärt mir genau, wo ich mein Zelt aufschlagen darf: "Anywhere in the woods", und wo das Waschhaus ist: "The red building over there."
Der Weg wird schmaler und führt in einen lichten Stangenwald aus hohen Fichten. Tent-Area steht auf einem Schild. Hier sind wir richtig. Bevor ich das Zelt hinstelle, sammele ich die Fichtenzapfen vom Rasen. Sonst rauben einem die Biester den Schlaf.
Das Zelt ist so trocken, dass es knistert. So liebe ich Camping. Warm, trocken und ohne Menschen. Bevor ich irgendwas anderes mache, muss ich aus den Motorradsachen raus. Die Hitze schreit nach einem Kleid. Draußen sind 30 °C, hier im Wald nur 26. Tolle Sache, so ein Wald.
Manchmal frage ich mich, ob das hier das richtige Leben ist, oder der tägliche Irrsinn im Dienst. Die Tötungsdelikte, Raub und Vergewaltigungen, der Missbrauch von Kindern, der mitunter so viehisch ist, dass man nicht darüber sprechen kann, ohne zu heulen. Man kann an den Menschen verzweifeln. Vielleicht bin ich deshalb lieber allein. Bäume sind ok und Blumen. Steine auch. Besonders Felsen.
Das sind keine trüben Gedanken. Ich merke nur, dass da noch eine andere Wirklichkeit ist, als das Leben in der Großstadt. Wenn Pieps und ich mit Motorrad, Zelt und Schlafsack unterwegs sind, dann ist alles in Ordnung. Unsere größten Sorgen sind das Wetter, Benzin, der nächste Zeltplatz und was es zu essen gibt.
Als die Sonne tiefer steht, werfe ich den Kocher an. Wir haben zwei schöne Scheiben Entrecôte. Ich atomisiere sie nach allen Regeln der Kunst, bis sie dunkelbraun sind. Meine Güte, sehen die lecker aus. Das Fettauge blinzelt uns dunkelgelb vom Teller entgegen.
Bei diesem Wetter macht Schweden Spaß, auch wenn es hier im Süden noch nicht sehr schwedisch ist. Morgen erreichen wir unser erstes Highlight in Schweden: Das Hätteboda Vildmarkscamp, ein Zeltplatz für Leute, die Lagerfeuer und Wildcampen mögen, aber auf den Luxus von fließendem Wasser (kalt) und Toilette (plumps) nicht verzichten mögen.
Bis morgen früh. Gute Nacht, Welt...
zum nächsten Tag...
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