Bozen und Meran
Oder: Fräulein Svenjas Gespür für Schnee
Es ist halbdunkel im Zelt. Regen tropft aufs Dach. Blind taste ich nach dem Handy und sehe auf die Uhr. Kurz nach sieben. Elf Stunden Schlaf. Ich horche in mich hinein, fühle die Stirn. Nichts. Alles ok. Mir geht es gut, ich fühle mich frisch und ausgeruht. Was war das denn gestern? Schlechtes Benzin getankt?
Das Waschhaus im Camp Valle Verde ist ein Tempel aus Wärme, Licht, heißem Wasser und sanfter Fahrstuhlmusik. Voller Dankbarkeit für den Luxus schließe ich mich mit Pieps in einer der Einzelkabinen ein und bin fest entschlossen, mir Zeit zu lassen und viel heißes Wasser zu verbrauchen.
Es ist unglaublich, wie gut es mir heute Morgen geht. Gestern dachte ich noch an Elend und Siechtum und heute kann ich es kaum abwarten, weiter durch Italien zu fahren. Aber zuerst brauchen wir ein Frühstück. Ich bringe das nasse Handtuch zurück ins Zelt und gehe hinüber ins Restaurant.
Hinterm Tresen eine Dame in meinem Alter. Eine Blonde. Sehr hübsch, aber man erkennt, dass sie zeitlebens stark geraucht hat: Unterernährt, schlechte Haut und das charakteristische Raucher Timbre. Rauchen, Spielen und Drogen. Drei Laster, die ich ausgelassen habe. Zigaretten schmecken mir nicht, Drogen bekämpfe ich und fürs Spielen bin ich zu geizig. Im Alter brauche ich mir bloß die Rotweinnase überzuschminken und bin so gut wie neu. Keine große Sache, dauert vielleicht fünf Minuten.
Ich frage nach dem größten Kaffee, den sie haben: Ein Americano? Ok, dann ein Americano. Geschmack kommt später, jetzt möchte ich viel heiße, koffeinhaltige Flüssigkeit trinken. Wenn ich wählen muss zwischen Gut und Viel, zwischen Menge und Qualität, dann entscheide ich mich jeden Tag für Viel. Lieber hätte ich eine Kombination von Beidem, aber das gibt es manchmal nicht.
Die Signora di Café hat eine Weile in Düsseldorf gewohnt und spricht noch etwas Deutsch: "Das Wättär ieste totall kapuutt." Ich pflichte ihr bei und sie berichtet davon, wie der August viel zu heiß war und wie es am 1. September schlagartig Winter wurde. Draußen ist richtig mieses Schmuddelwetter. Es fehlt bloß noch der Schnee.
Habe ich das den Italienern angetan, frage ich mich schuldbewusst? Indem ich beschlossen und verkündet habe, im September nach Italien zu fahren? Bin ich eine moderne Ausgabe der biblischen Heuschreckenplage? Ganz abwegig ist der Gedanke nicht.
Auf jeden Fall habe ich mehr Erfahrung, als die Italiener, was Regen, Nässe und Wind angeht, denke ich, während ich mit geübten Handgriffen das nasse Zelt abbaue. Die neuen Regensachen waren eine gute Investition, auch wenn sie schweineteuer waren.
Kurz darauf endet der Asphalt und geht in Schotter über. Im zweiten Gang tuckere ich den Hang hinauf. Ab und zu halte ich an und mache ein Foto. Der wasserdichten Lumix mit dem Leica-Objektiv macht der Regen nichts aus. Vor jeder Aufnahme wische ich kurz das Wasser von der Linse und bin erstaunt, als da plötzlich eine winzige Schneeflocke liegt, die rasch wegtaut, bevor ich sie wischen kann. Ich schaue weiter voraus und tatsächlich: Es beginnt ganz leicht zu schneien. Der Höhenmesser zeigt 1.500 m.
Pieps hat schnell genug davon, mit dem Dubs im Schnee zu sitzen und nach ein paar Schneebällen sind auch meine Finger so steif gefroren, dass ich schnell wieder Handschuhe anziehe. Zufrieden steige ich aufs Motorrad und drücke den Starterknopf. Das dumpfe Hämmern des Einzylinders hat etwas Beruhigendes.
Die Abfahrt führt über Schotter in Serpentinen ins Tal und obwohl ich die Enduro im ersten Gang halte, stehe ich fast pausenlos auf beiden Bremsen. Diesmal erlebe ich die Wetterscheide umgekehrt, bei 1.500 m geht der Schnee in Regen über. Schnee fand ich besser.
In Soraga di Fassa halte ich vor George's Bar. Der Laden ist gerammelt voll und schön warm. Am Tresen bestelle ich Schinkenbrot und einen Café Americano und setze mich damit draußen unter die Markise. Das Thermometer an der Apotheke gegenüber zeigt 7° C.
Allmählich wird mir wieder warm, oder zumindest weniger kalt. Ich trinke den letzten Schluck Kaffee aus und fahre weiter. Bis nach Bozen ist es nicht mehr weit. Die Straße klettert und klettert, es regnet. Pünktlich bei 1.600 m Höhe geht der Regen in Schnee über. Allmählich kapiere ich, was es damit auf sich hat, mit dieser Schneefallgrenze. Bisher war das für mich nur ein Begriff aus dem Wetterbericht. Schleswig-Holsteins höchster Berg ist 167,4 Meter hoch. Komma vier! Wenn man klein ist, zählt jeder Zentimeter.
Der Conti TKC80 hat eine M+S Kennung. Das Gummi bleibt auch bei Kälte geschmeidig. In den Serpentinen hoch zum Karerpass rutsche ich weit nach vorne an den Lenker. Ich brauche Druck auf dem Vorderrad. Hinten ist nicht so wichtig. Alle paar Sekunden wische ich den Schnee vom Visier. Es steht einen Spalt offen, damit etwas Lüftung geht.
Bergab fahre ich noch vorsichtiger. Bloß nicht ins Rutschen kommen. Selbst die Autofahrer kriechen nur noch mit 25 km/h die verschneite Bergstrecke hinunter. Als der Schnee bei 1.500 m wieder in Regen übergeht, bin ich erleichtert. Wann sonst freut man sich schon einmal über Regen?
Ich spüre meine Füße kaum noch. Die Temperatur liegt bei 0°C. "Ein letztes Mal Sonne tanken, bla, der Spätsommer in Meran, bla..."
Hauptsache, ich habe genug T-Shirts, Miniröcke und Ballerinas mit. Die Gepäckrolle ist voll von dem Zeug. Sogar an Sonnencreme habe ich gedacht. Lichtschutzfaktor 50. Fünfzig!
Je näher ich Bozen komme, desto wärmer wird es und desto dichter wird der Verkehr. Kurz vor der Innenstadt sind die Straßen verstopft. Nichts geht mehr. Ein unglaubliches Chaos. Zwei Polizisten versperren den Weg in den Stadtkern. Wegen Überfüllung geschlossen. Ich will gerade abdrehen, da winkt eine junge Kollegin mich durch. Zweiräder dürfen hinein.
Ich liebe Bozen schon deshalb, weil ich nicht länger frieren muss. Es sind 18° wunderbare Wärme. Die Innenstadt ist so zugeparkt mit Zweirädern, wie ich es sonst nur aus der Hamburger Innenstadt mit Autos kenne. Überall sind kleine Parkplätze für Motorräder eingezeichnet.
Auf dem Waltherplatz wird ein halbes Dutzend Reisegruppen verschiedener Nationen gleichzeitig informiert. In der Laubengasse ist kaum noch ein Durchkommen. Kein Wunder, dass sie die Innenstadt gesperrt haben.
Bozen zieht neben Proleten wie mir auch eine ganz besondere Klientel an. Abgewohnte Blondinen mit zu großen Sonnenbrillen und toupierten Haaren, deren bunte Bognerjacken mehr kosten, als Greeny und ich zusammen, zu gebräunt, zu chick, zu alles. Selbst mit fünfundfünfzig senke ich hier das Durchschnittsalter und wohl auch das -einkommen.
In der Laubengasse sind sämtliche großen Marken verteten. Gucci, Fendi, Rolex und einige, die ich nicht kenne. Bei Schuhen denke ich an Deichmann, vielleicht Buffalo, und bei Uhren an Timex oder Casio.
Es gibt in Bozen buchstäblich alles zu kaufen, außer einem: Lebensmittel. Erst eine Einheimische kann mir wenigstens einen kleinen EUROSPAR in der Fußgängerzone nennen. Der Laden ist eng und dazu overcrowded, aber das Angebot ist top. Hier finde ich meine Mischung aus Menge und Qualität: Ich kaufe zwei panierte Schnitzel und gebackene Auberginen in Scheiben.
In Meran ist die Apfelernte in vollem Gange. Als unsere Kolonne vor einer roten Ampel halten muss, rupfe ich die Lumix aus der Tasche und schieße rasch ein Foto, bevor es grün wird und wir weiterkriechen.
Hier ist die Hölle los. Keine Chance, noch einen Platz zu kriegen. Eine Frau, die gerade mit ihren Anmeldeunterlagen aus der Rezeption kommt, bemerkt meine entäuschte Miene und spricht mich an: "Fahren Sie bloß nicht noch woanders hin. Wir waren schon überall, alles belegt. Vielleicht haben Sie hier noch Glück."
In der Rezeption herrscht eine merkwürdig angespannte Atmosphäre. Ein paar freie Plätze gibt es noch, aber klar ist: Nicht für jeden. So muss die Stimmung an Deck der Titanic gewesen sein, als die Leute um das letzte Rettungsboot herumstanden.
"Frauen und Kinder zuerst!", denke ich und überhole mit elegantem Sidestep ein Ehepaar, das seine Aufmerksamkeit den Souvenirs widmet und dafür kurz stehenbleibt, so dass eine Lücke entsteht. Amateure! Anstehen hat auch etwas mit Konzentration und Engagement zu tun.
Ich habe tatsächlich Glück und ergattere den letzten freien Platz, gerade groß genug für Greeny und ein kleines Zelt. Es ist kein vollwertiger Stellplatz, sondern bloß eine trockene Ecke in einem Meer matschiger Fahrspuren am Rande der Einfahrt.
Heute ist der 19. September und auf dem Platz herrscht unglaublicher Trubel. Damit hatte ich nicht gerechnet, aber eine Dame klärt mich auf: "Da könn'se auch im November kommen. Ist das Gleiche."
Nach einer Platzrunde über einen der ätzendsten Campingplätze, auf denen ich je das Missvergnügen hatte, zu stehen, ziehen Pieps und ich uns zurück ins Zelt und wie immer funktioniert es: Sowie wir in unserem mitgebrachten Ferienhaus sitzen, um uns herum die vertraute Umgebung, fühlen wir uns zu Hause und geborgen.
Ich gieße Olivenöl in die Pfanne, entkorke den Rotwein und bin bloß noch eine unbeteiligte Beobachterin, die das Treiben draußen mit Staunen verfolgt.
Noch bis in die Nacht hinein treffen Wohnmobile ein, nicht wenige davon in der 100k Euro Klasse. Jeder Winkel der Zufahrt und in den Gängen wird ausgenutzt, niemand wird fortgeschickt. Das ist entweder sehr freundlich, oder sehr geschäftstüchtig. Vermutlich beides, aber ich bin froh, dass ich bleiben darf.
Morgen wollen wir übers Stilfser Joch fahren, falls das bei dem Wetter überhaupt befahrbar ist. Doch das ist ein Problem von morgen. Jetzt wollen wir erstmal schlafen.
Gute Nacht, Welt...
zum nächsten Tag...
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