Tag 3 - Auf der Norröna
Vor lauter Aufregung und aus Angst was zu verpassen, besonders das Schiff, bin ich schon um 04:40 Uhr hellwach. Ich bleibe stumm liegen, kneife die Augen zusammen und tue so, als ob ich noch schlafe. Tue ich aber nicht. Um halb sechs gebe ich auf.
Der Købmands Laden am Campingplatz macht gerade auf, als ich zur Tür hereinkomme: "Godmorgen". Ich ziehe mir einen Becher Kaffee aus dem Automaten und sehe mir die Brötchen an. Ich möchte eines von diesen Blätterteigbrötchen mit weißem Mohn obendrauf. Bei uns zuhause heißen sie Dänische Brötchen und jeder Bäcker weiß das. Aber wie heißen die in Dänemark? Sicherheitshalber zeige ich bloß mit dem Finger darauf, um mir eine eventuelle Peinlichkeit zu ersparen.
Eine junge Frau, die sicher noch keine zwanzig ist, schmeißt den Laden ganz alleine. Sie ist so früh am Morgen schon bester Laune, wirbelt umher und scheint alles gleichzeitig zu erledigen. Dabei ist sie eine solche Schönheit, dass es mir fast die Sprache verschlägt. Mandelförmige dunkle Augen, volle Wimpern, langes schwarzes Haar und eine perfekte Figur.
"Pöh...!, denke ich ebenso missmutig wie neidisch: "Werd du erstmal sechsundfünfzig und leb ein Leben voller Höhen, Tiefen und Verletzungen. Mal sehen, wie die Welt dann aussieht."
Sofort geht es mir besser. Ich zahle, nehme meine Sachen und balanciere den heißen Becher vorsichtig nach draußen an einen der Tische vorm Laden. Pieps neue Tante Doris, "die mit die Kekse, näh?!" kommt zum Brötchen holen: "Guten Morgen. Wir sehen uns an der Fähre. Bis später."
Tag: 03, Kilometer: ... lasse ich vorerst offen, und in Bemerkungen trage ich ein: Hirtshals, Norröna. Wie vor jeder Reise, habe ich das Büchlein liebevoll vorbereitet, habe Linien gezeichnet, einen Ausdruck der Planung zurechtgeschnitten und eingeklebt, eine Umrechnungstabelle von Euro zu Isländischen Kronen und eine kurze Liste mit Anschriften für Postkarten. Am Ende soll das den Teig ergeben, aus dem ich den Reisebericht knete. Es steht schon eine ganze Reihe solcher Büchlein im Regal, jedes mit den Spuren "seiner" Reise.
Es sind bloß ein paar Kilometer bis zum Hafen. Als ich auf den großen Platz vorm Check-In rolle, werden gerade die Fahrzeuge nach Norwegen abgefertigt: Auf Spur 1 zur Schnellfähre nach Kristiansand und in 2 bis 7 die nach Langesund. Iceland erscheint noch auf keiner der Anzeigetafeln, aber das Schiff wird ja auch erst in anderthalb Stunden erwartet.
Auf Lane 7 steht inzwischen eine ganze Reihe verschiedener Motorräder aus halb Europa. Auch bei den Reiseenduros sprechen Touratech, Kanister und Übergepäck eine deutliche Sprache. Einige haben ihren halben Hausstand dabei.
Meiner Ansicht nach steckt ein Logikfehler dahinter: Man will für alles gerüstet sein, für jeden Fall, jede Panne, jedes Wetter und überhaupt für jede Eventualität. "Wenn ich diesen oder jenen Gegenstand, Stuhl, Kanister, Schuh, Schraubenschlüssel, Hose, Topf, Ersatzteil noch mitnehme, kann mir nichts passieren. Besser haben, als brauchen."
Falsch! Und für eine Fahrt ins isländische Hochland: Doppelt falsch! Motorräder sind grundsätzlich nicht dafür gemacht, schwer beladen zu werden. Das Dumme ist nur: Man kann es tun und sie fahren trotzdem.
Ich ahne, was manche denken, wenn sie meine Predigt lesen: "Was bildet die sich denn ein? War noch nie auf Island und gibt an wie Lagertha, die Frau von Ragnar Lodbrok." Nein, auf Island war ich tatsächlich noch nicht, aber ich fahre mein Leben lang Enduro und weiß, dass Leistung im Gelände wenig und Gewicht alles bedeutet. Da geht es um jedes Kilo. Nicht erst, wenn die Fuhre auf der Seite liegt.
Zwei Franzosen haben ‐ auf den ersten Blick ‐ alles richtig gemacht: Ein Mann, eine Frau, zwei KTM 690 Enduros, alle vier drahtige Typen. Das Gepäck besteht zum größten Teil aus Benzinkanistern und zwei gewaltigen Bügelschlössern. Das eigentliche Reisegepäck tragen sie in Rucksäcken auf den Schultern. Beide in luftigen Motocross Sachen mit offenen Helmen und schweren MX-Stiefeln. Schwitzen werden sie nicht, aber soweit ich weiß, ist das auf Island ohnehin selten ein Problem.
Mit großen Augen bestaune ich die vielen Kanister: "We drive through the Highlands. There are 700 km between Fuel Stations. A guide told me that", erklärt der Franzose mit einem sympathischen Lächeln. Ein hübscher Kerl und offensichtlich ein erfahrener Enduropilot.
"Ah, ok", erwidere ich. "I didn't know that." Ich hatte 243 km ausgerechnet. Meine Honda hat eine Reichweite von mindestens 300 km plus 50 km im Kanister. Jenes Island, dessen Wandkarte zuhause in meinem Esszimmer hängt, hat nämlich nur 300 km von Nord nach Süd und kaum 500 km von West nach Ost. Das Hochland ist kleiner. Ich bin gespannt, wer richtig liegt, der Guide, oder das Mädchen vom Lande.
Die Abfertigung geht schnell und reibungslos: Ich reiche mein Ticket und Personalausweis durchs Fenster und bekomme dafür ein Pappkärtchen mit der Nummer 8029, meinem Namen und einem Magnetstreifen auf der Rückseite: Mein Kabinenschlüssel.
"Lane 19." Für ein "please" ist wohl keine Zeit. Für mein "Thank you" allerdings auch nicht. Ich lasse die Kupplung kommen und fahre auf die große Harfe mit den Aufstellspuren. Die 19 ist leicht zu finden, dort steht schon eine Handvoll anderer Motorräder.
Zugleich spüre ich die Anspannung. Bei mir und bei den Anderen. Jeder ist auf seine Weise unsicher und zugleich entschlossen, sein Bestes zu geben, aber keiner weiß, ob das reichen wird, wenn das Ziel Island heißt.
Im November 2007 kam es nach der Kollision mit einer zwölf Meter hohen Welle zu einem Zwischenfall. Das Schiff war für zwölf Minuten manövrierunfähig, weil sich die Maschinen automatisch ausschalteten. Der Steuerbordstabilisator wurde abgerissen und hatte dabei den Schiffsrumpf durchschlagen. Es entstand ein 20 Zentimeter großer Riss unterhalb der Wasserlinie. Auf dem Fahrzeugdeck stürzte ein Anhänger um und zerstörte zwölf Autos. Weitere 80 Wagen wurden bei dem Vorfall beschädigt. Von den 325 Personen an Bord wurde keine schwer verletzt. Es kam zu einer Krängung von 40°.
Quelle: Wikipedia.
Ich gebe die coole Else vom Meer, der Seegang nichts anhaben kann. Kann er auch nicht, weil ich mir die Taschen und den Magen vollgestopft habe mit Reisetabletten. Nicht auszudenken, wenn ich sämtliche Mahlzeiten gebucht hätte und statt zu schlemmen seekrank in der Koje läge, während Pieps die fröhliche Maus am Buffet gibt.
Mit Spannung sehen wir zu, wie die Island-Abenteurer von Bord fahren, aber schon der Erste, der an Land kommt, ist ein Schlag in die Magengrube: Ein Biker schiebt seine Enduro vom Schiff und stur weiter die lange Straße aus dem Hafen hinaus. Er guckt nicht einmal zu uns herüber.
Als nächstes werden zwei Geländewagen von Bord geschleppt. Erst jetzt kommen alle, die noch aus eigener Kraft von Bord fahren können.
Ich bin so aufgeregt, dass ich schon eine Weile in Helm und Handschuhen auf der Honda sitze, während andere noch lässig auf dem warmen Asphalt lümmeln. Plötzlich sind wir dran. Lässig starte ich den Motor und lege den Gang ein, während die Franzosen in ihren bunten Crossstiefeln hastig angerannt kommen.
Ich liebe diesen Moment, wenn es an Bord geht und man mit dem Motorrad durchs ganze Schiff Motorrad fahren darf.
Im letzten Moment habe ich den rettenden Einfall: Ich steige vorher ab und schiebe die Honda mit ausgeklapptem Seitenständer in die Lücke. Als sie richtig steht, lasse ich sie sanft auf den Ständer sinken.
Der Einweiser ist kackenunfreundlich und pflaumt Doris an, als sie sich beschwert, dass die Motorräder zu eng gepackt würden. "...more than a thousand bikes in my life and it works", höre ich ihn nur keifen. Doris ist sauer und das zu Recht.
Alle kämpfen mit den ungewohnten Gurten, die nicht mit der vertrauten Ratsche funktionieren und zum ersten Mal bin auch ich zu dämlich, mein Motorrad selbst festzumachen. Ich kapiers einfach nicht. Ein britischer KTM Fahrer bemerkt meine Verzweifelung und spannt das Motorrad für mich ab.
Es fällt mir nicht leicht, die Hilfe anzunehmen, weil es an meinem Nimbus kratzt, immer alles selbst und sogar noch besser zu können, aber ich bin dankbarer als ich zugeben mag.
Zur Information für die, die noch nicht auf einer großen Fähre gereist sind: Man nimmt nur die Tasche mit der Zahnbürste, einem Buch und dem Snoopie Nachthemd mit in die Kabine. Helm, Handschuhe und alles andere bleiben am Motorrad. Das Fahrzeugdeck ist während der gesamten Überfahrt verschlossen und wird Video überwacht. Nicht einmal Evel Knievel in seiner besten Zeit hätte den Sprung mit einem geklauten Motorrad von Bord geschafft. Also hätte er schon, aber zu wenig Anlauf.
Ich greife mir den Tankrucksack mit Pieps, dem Marzipan und meinem Nachthemd und stiefele durch eines der Schotten von Deck. Mit dem Lift geht es bis ganz nach oben auf Deck 8.
Es dauert eine Weile, bis man sich auf einem unbekannten Schiff in dem Labyrinth aus Gängen und Türen, Decks und Treppen zurechtfindet. Während ich noch auf der Suche nach Cabin 8029 bin, knackt es im Lautsprecher an der Decke: "Ladies and Gentleman. For all Passengers. The Cabins are being cleaned and are not ready yet. Please wait in the public Areas."
Durch die kurze Liegezeit von neunzig Minuten bleibt keine Zeit zum Putzen und um die Betten neu zu beziehen. Das Reinigungspersonal geht mit auf See und wird erst morgen auf den Färöer wieder von Bord gehen, wo die Norröna zuhause ist.
Ich gehe solange in die Sky-Bar. Die heißt nicht so wegen des Fernsehsenders, sondern weil sie oben auf dem Sonnendeck liegt, gewissermaßen unter freiem Himmel, wenn nicht ein fetter Glaskasten drumherum gebaut wäre, weil einem auf See sonst das Schirmchen vom Drink wehen würde.
"So you're going to Iceland?", eröffnet er das Gespräch. "Yes, I am." Wohin auch sonst, aber schließlich heißt es Small Talk und der Barkeeper ist ein Meister darin. Wie jeder gute Barkeeper, den ich je getroffen habe.
Ich erfahre, dass er von den Färöer stammt, die letzten Jahre aber in Südafrika gelebt hat, bevor er jetzt wieder zurückgekehrt ist in seine Heimat, auf die Färöer Inseln.
"I bet there are a lot less Lions on the Faeroer, aint't there?"
"You'd be amazed, how much less", kontert er trocken.
Er widmet sich anderen Gästen und ich räume den Platz an der Bar. Ich muss noch meine Uhren umstellen. Die Reise nach Island spielt in drei Zeitzonen: Deutsche, bzw. dänische Sommerzeit ist UTC+2, die Schiffszeit ist Färöer Zeit, UTC+1, also eine Stunde zurück, und Island liegt auf UTC 0, zwei Stunden vor deutscher Sommerzeit. Sorgfältig tickere ich mich durch die Menüs im Handy und den beiden Kameras. Die Honda stelle ich um, wenn ich übermorgen in Island an Land gehe.
Ich stecke die Magnetkarte in den Schlitz, die LED am Schloss blinkt grün und ich öffne die Tür. Eine hübsche Kabine mit Bett, Schrank, Fernseher und einem Schreibtisch. Außerdem ein wunderbares Bad mit Dusche, einem großen, beleuchteten Spiegel und jeder Menge dickflauschiger, weißer Frottee Handtücher.
"Ladies and Gentlemen. This is your Captain speaking. Welcome aboard. The Sea will be calm, up to two meter waves and a little wind from the east around 15 m/sec. We'll have perfect Sailing Conditions. I wish you a pleasant journey." Es knackt und der Captain ist verschwunden.
Zeit für eine Runde durchs Schiff. Ich nehme die Kamera, etwas Geld und das Moleskine und mache mich mit Pieps im Schlepptau auf den Weg, um das Schiff zu besichtigen. Neugierig schlendern wir durch die Gänge.
"Svendura...? Svenja aus Kiel?", ruft jemand fragend. Ich sehe erstaunt hoch: Wolfgang aus Aschaffenburg hat Pieps aus dem Internet erkannt. Er ist mit dem Wohnmobil unterwegs nach Island. Wir unterhalten uns eine Weile sehr nett, bevor Pieps mich ungeduldig wegzieht.
Durch das Umstellen der Uhren auf Schiffszeit ist das Abendessen schlagartig eine Stunde näher gerückt. Es war klug, sämtliche Mahlzeiten schon vorher zu buchen. Das Geld ist seit Monaten bezahlt und längst verschmerzt. An Bord wäre ich nämlich zu geizig gewesen, fast 40 € fürs Abendessen auszugeben, so aber freue ich mich auf das Ereignis des Abends: Das Norröna Buffet.
Pünktlich um 18 Uhr stehe ich als Erste vor dem Schild: Please wait to be seated. Eine ausgesprochen freundliche Empfangschefin begrüßt mich. Sie streicht meinen Namen von der großen Liste und weist uns einen Platz zu. Wir sitzen an Tisch 58, einem gemütlichen Zweier, den ich mit Pieps ganz für mich habe.
Das Buffet ist in L-Form aufgebaut, jede Seite sicher fünfzehn Meter lang. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Fleisch, Fisch, Gemüse und Kartoffeln auf zig verschiedene Weisen zubereitet, vier Tische allein mit Kuchen und Süßspeisen und ein exquisites Buffet aus Meeresfrüchten, an das ich mich nicht herantraue, weil ich keine Ahnung habe, wie man die Krustentiere aufbekommt, ohne eine Riesensauerei dabei anzurichten.
Der Schweinebraten hat eine herrliche Kruste mit einer dicken Fettschicht darunter: "Four slices of pork, please". Er säbelt vier Scheiben herunter und legt sie auf meinen Teller: "You are welcome back", lächelt er mich an. Oh ja, Baby, denke ich. Darauf kannst du dich verlassen. Zufrieden trage ich die Beute an unseren Tisch.
Essen vom Buffet muss ich erst noch lernen. Selbst nach all den Jahren habe ich noch das Gefühl, alles aufessen zu müssen. Was ich nicht esse, schenke ich dem Gastwirt. Ein idiotischer Gedanke, aber ich werde ihn nicht los und bin froh über jedes Gericht, das ich nicht mag. Das Problem ist nur, dass ich alles mag. Nur Süßspeisen kann ich ohne Not stehenlassen, aber dann ist da noch Pieps.
Dabei hat Claudia es mir so erklärt: "Du bleibst doch auch nicht an der Parkuhr stehen, bloß weil noch 20 Minuten drauf sind, die du nicht der Stadt schenken willst. Wenn alles erledigt ist, steigt man ein und fährt weg. Am Buffet machst du es genauso: Wenn du satt bist, hörst du auf, legst das Besteck weg und gehst."
So wie Claudia es erklärt, klingt es ganz einfach und um ein Haar gelingt es mir auch. Nachdem ich zwei Lämmer und zwei Rinderfilets probiert habe, bin ich satt. Dazu hatte ich zwei Flaschen Beck's Blue.
Die Motorradhose sitzt deutlich enger, als ich endlich genug habe und den Saal verlasse. Bevor wir schlafen gehen, werfe ich einen letzten Blick an Deck. Dichter Seenebel liegt über dem Meer. Ruhig zieht die Norröna über den Atlantik. Nicht der geringste Seegang ist zu spüren. Den abgerissenen Stabilisator haben sie offensichtlich wieder angenäht.
Wie für jede Reise, habe ich den Kindle Reader mit Literatur aus dem Reiseland gefüllt. Diesmal ist es die Krimireihe um Officer Gunnhildur Gísladóttir von der Mordkommission in Reykjavík. Nicht, dass es auf Island überhaupt genügend Morde geben würde, um daraus eine Krimireihe zu machen, aber im Roman ist alles erlaubt.
Pieps schnorchelt selig neben mir ins Kissen und träumt von der Schlacht am Kuchenbuffet, während ich mich in den ersten Band vertiefe, um von einer Kollegin etwas über das Land zu erfahren, in dem ich übermorgen von Bord gehen werde...
zum nächsten Tag...
zurück nach oben
Meine Güte, es ist unglaublich, wieviel es von diesem im Grunde lahmen Tag zu berichten gibt: Aufstehen, Zelt abbauen, 7 km fahren, an Bord gehen, essen und schlafen. Dabei habe ich manches schon gekürzt, oder ganz weggelassen.
Ich freu mich, wenn ihr einen Kommentar zur Reise habt. Habt ihr?