Tag 6 - Zur Askja
Mitten in der Nacht. Stockfinster. Ich werde wach, weil eine gewisse Maus sich kräftig mit dem Hintern an mich kuschelt und dabei immer wieder wohlig seufzt. Ein erstaunlich breiter Hintern für eine Maus ihres Formats. Ich fahre hoch: Das ist nicht Pieps!
Nun gut, denke ich, lass sie. Es ist eine kalte Nacht, bloß knapp über Null, und das Biest ist halbwegs sauber und stinkt nicht. Vermutlich hatte sie denselben Gedanken. Wir legen uns wieder hin und schlafen weiter.
Gegen Morgen steht die Wärmeziege auf, ködelt verächtlich ins Vorzelt und verschwindet grußlos ins Hochland. Erst jetzt sehe ich, dass sie auf meinen mit Neopren gefütterten Gummistiefeln geschlafen hat. Isomatte Zicken-Style.
Der Himmel ist nahezu wolkenlos blau. Ein perfekter Tag für mein erstes Hochlandabenteuer. In diesem Licht wirkt alles gleich freundlicher. Ich baue das Zelt ab und verstaue das Gepäck doppelt sorgfältig, damit ich unterwegs keinen Ballast abwerfe.
Das Frühstückszimmer ist sehr rustikal komplett aus Holz. Ich mag das. Hinter den dicken Torfwänden muss es hier im Winter urgemütlich sein. Sofern man die Anfahrt überlebt
Auf dem Tresen an der Wand steht ein karges Buffet. Eine Sorte Käse, etwas Wurst, Marmelade, Cornflakes und ein Topf mit heißem Porridge. Pieps und ich sehen uns an.
Wenn wir auf Dienstreise solch ein Frühstück vorgesetzt bekämen, würden wir dort nie wieder buchen und obendrein eine vernichtende Bewertung abgeben, aber hier ist es anders. Nachdem ich die erste Enttäuschung verwunden habe, bin ich auf einmal ganz zufrieden: Dieses Frühstück gehört hierher. Es passt. So, wie in der Wüste Wasser angemessener erscheint, als ein Cosmopolitan.
In der Zwischenzeit hat Pieps ein Glas mit Erdnussbutter entdeckt. Die lieben wir beide sehr, obwohl man sein Herz ja angeblich nicht an Brotaufstriche hängen soll.
Nun gut, vielleicht ein bisschen. Die Angst zu versagen: Sandfelder, Flüsse, Pieps und ich allein. Was, wenn ich die Honda im Fluss versenke und mich gleich mit? Was, wenn der Luftfilter vollläuft? Wie lange braucht der ADAC zur Askja und wer ruft da überhaupt an und von wo?
So voller Zweifel. Manchmal ist es kein Leichtes, ich zu sein. Ich stürze den letzten Schluck Kaffee herunter, sammele Pieps ein und schiebe mit Elan den Stuhl zurück: "Komm Pieps, Showtime!"
Es wird Zeit, mich startklar zu machen. Heute wird sich zeigen, ob meine selbst konstruierten Watstiefel etwas taugen. Manche Islandfahrer kaufen sich extra Wathosen aus dem Angelshop, aber zusammengerollt wird das ein Riesenpaket. Andere laufen in ihren Motorradstiefeln durch den Fluss, mit dem Ergebnis nasser Füße und wieder andere setzen keinen Fuß ins Wasser und heizen einfach durch. Ich liebe die Clips dazu bei Youtube.
Nein, ich habe eine andere Idee: Ich fahre in Gummistiefeln. Nicht in den Billiggurken aus dem Baumarkt, sondern in premium Wandergummistiefeln aus Schweden. Die Motorradhose steck ich rein und die Regenhose trag ich über den Stiefeln und dichte sie mit Klettriemen ab, damit kein Wasser eindringen kann. Soweit die Theorie.
Heute geht es zur Askja, dem großen Vulkan im Vatnajökull-Nationalpark. Dort hat die NASA ihre Astronauten für die Mondlandung trainiert, darunter Neil Armstrong, den ersten Menschen auf dem Mond. Momentan arbeiten Wissenschaftler im Rahmen des Mars Exploration Program an einem Trainingsprogramm für die erste Reise zum Mars. Und durch diesen Training Ground hoppeln Pieps und ich heute auf unserem Ackermofa.
Ein Schild am Beginn jeder F-Road weist auf die Fahrzeuge hin, mit denen man die Strecke bewältigen kann und mit welchen eher nicht.
Ich lege den Gang ein, lasse die Kupplung kommen und düse in bester Entdeckerlaune los. Das letzte Mal so voller Vorfreude auf eine Piste war ich am Aursjøvegen in Norwegen.
Nicht lange danach erreiche ich die zweite Furt. Sie ist deutlich breiter, aber auch nur ein paar Zentimeter tief. Jetzt will ich wenigstens einmal meine neuen Watstiefel ausprobieren, bevor ich da einfach durchfahre.
Ich bin ein wenig enttäuscht. Das sind die sagenumwobenen Furten auf Island, um die solch ein Wirbel gemacht wird? "Das ist alles, was du zu bieten hast, Island?", denke ich großkotzig. Ein seichtes Rinnsal, in dem Babys planschen? Da könnte ich auf dem Hinterrad durchheizen.
Da ist bloß eine Information, die mir zu diesem Zeitpunkt noch fehlt: Bäche und Tümpel sind keine Furten. Das sind bloß Pfützen, über die hier keiner spricht. Aber das werde ich schon noch herausfinden.
Manche Ziele sind im Reiseführer überzeugender als in der Realität. Die Wirklichkeit kann manchmal nicht Schritt halten mit der eigenen Erwartung. Das ist mir auf Reisen schon oft passiert.
Diesmal ist es umgekehrt. Der Eindruck, den die steinige Wüste auf mich macht, ist überwältigend. Natürlich hatte ich Fotos und Videos gesehen, wusste ungefähr, was mich erwarten würde, aber diese Landschaft haut mich fast aus dem Sattel. Die Farben, eine Million Abstufungen von braun, grau und beige, die Weite, die völlige Abwesenheit von Vegetation und Zivilisation. Überwältigend!
Der Untergrund wird rauher. Viele Querrillen dicht aufeinander, die das gesamte Motorrad in Resonanz versetzen, die typische Wellblechpiste, äußerst unangenehm zu fahren. Das Wilbers-Fahrwerk steckt vieles weg, ist aber zu straff gedämpft. Ich halte an, stelle den hinteren Dämpfer fünf Klicks weicher und fahre wieder los. Jetzt ist es besser, aber trotzdem werden wir noch ganz schön durchgeschüttelt.
Plötzlich taucht vor mir ein Verkehrsschild mit einem stilisierten 4x4 auf, der durch einen Fluss fährt. Eine Furt? Aber ich hab doch schon beide Furten gemeistert, denke ich weinerlich. Was soll das denn jetzt noch?
Wenigstens gibt es für diese Furt eine gedruckte Bedienungsanleitung:
Crossing requires caution
Das klingt einfach. Außerdem hat Claudia mir hundertmal erklärt, wo ich den Fluss überqueren soll: "Direkt an der Kante, wo das Wasser grisselig wird", hatte sie gesagt und mich dabei über ihre Brille mahnend angeblickt. Ich habe geduldig genickt, obwohl ich es längst auswendig mitsprechen könnte. "Auf keinen Fall in der Mitte, wo das Wasser ruhig ist und die Furt am schmalsten, hörst du?"
"Ich bin ja nicht blöde", hab ich in der Sicherheit meines warmen Wohnzimmers leicht patzig geantwortet, aber jetzt bin ich heilfroh über jedes bisschen Coaching, das ich mit auf den Weg bekommen habe.
Das Wasser fließt ruhig dahin, aber sowie ich den ersten Fuß in den Fluss setze, merke ich, wie stark die Strömung ist. Als erstes trage ich den Tankrucksack rüber. Darin wohnen Pieps, die gute Kamera und alles Elektrische, wie Akkus und Ladegeräte. Außerdem brauche ich den Platz, wenn ich im Stehen fahre.
Ich wate am Rand der Stromschnelle im weiten Bogen auf die andere Seite. Der Untergrund ist grobes Felsgestein. Beshicen zu laufen und beshicen zu fahren.
"Kurz vor der Ausfahrt kommt meist noch ein tiefer Topf, der entsteht, wenn die schweren Wagen Gas geben, um die Steigung aus dem Flussbett zu schaffen. Da musst du mit dem Motorrad gut aufpassen", hatte Claudia mir eingeimpft.
Für einen Moment denke ich tatsächlich darüber nach, zurück nach Möðrudalur zu fahren und mich neu zu orientieren, aber ich will nicht schon vor der ersten Schwierigkeit kneifen und das bombig gute Wetter flößt mir Vertrauen ein.
Ich stelle das Stativ auf und richte die Kamera ein. Falls ich tatsächlich baden gehe, soll es wenigstens ein gutes Video davon geben, denke ich in einem Anflug von Fatalismus.
Ich wate zurück, lasse den Motor an und starte gleich in den Rasten stehend, so wie ich es vor Jahrzehnten beim Jugendtrial gelernt habe. Ich halte mich dicht an der Stromschnelle, da wo das Wasser sich kräuselt. Bloß nicht zu langsam werden. Wer die Kiste abwürgt, liegt eine Sekunde später im Bach.
Wie alle Enduros, die auch für die die Straße gedacht sind, ist auch die Honda für Gelände zu lang übersetzt. Ich bin immer etwas zu schnell. Die lange Gabel federt einige Male tief ein, Wasser spritzt, aber das große Vorderrad überquert jedes Loch und jeden Brocken, die unter Wasser verborgen liegen. Am Ende wird es noch einmal tief, aber dann lenke ich die Enduro auch schon ans Ufer. Mir fällt ein Stein vom Herzen, das war viel einfacher, als es vorher aussah.
Einen Fehler mache ich aber doch, obwohl der mir erst hinterher auffällt und diesmal keine Folgen hat: Ich stelle den Motor ab. Wenn man aus dem Fluss kommt, soll man die Maschine laufen lassen, für den Fall, dass irgendwo Wasser eingedrungen ist. Hab ich gewusst, hab ich vergessen.
Die Terraformer von Style your local Planet haben auf Island Unglaubliches geleistet. Die haben damals auch Tatooine gestaltet, den Wüstenplaneten im Äußeren Rand der Star Wars Galaxy.
Entfernungen im Hochland lassen sich genauer in Stunden als in Kilometern angeben. Ich hatte mich völlig verschätzt, was die Fahrtstrecke zur Askja angeht. Wie lang können 90 Kilometer schon dauern? Von Kiel nach Flensburg hab ich 90 Minuten gebraucht. Auf der Landstraße.
Weil man die Piste nicht verlassen darf, ist es aber schwierig, einen geeigneten Platz für eine Pause zu finden. Meine deutsche Beamtenseele tut sich schwer damit, das Motorrad einfach auf dem Weg stehen zu lassen: "Und wenn da jetzt einer vorbei will?"
Es will aber niemand vorbei und so stehe ich am Rand eines großen Lavafelds und trinke Wasser aus der Plastikflasche. Die muss ich nachher an der Asjka unbedingt nachfüllen. Es war sowieso blöd, mit nur einer Flasche Wasser hier raus zu fahren. Dafür haben wir genug Nüsse und Schokolade mit. Und Travellunch.
Als die Bimswüste endet, führt die Piste über flache Lavaplatten. Es fährt sich ganz angenehm, etwa wie auf schlecht verlegten Gehwegplatten.
Die Honda fräst sich durch den Sand wie nix. Das Hinterrad tänzelt ein wenig, bricht aus, aber fängt sich wieder. Das macht richtig Spaß. Was soll daran schwierig oder gefährlich sein? Auf einem Racer wäre es schwierig, aber mit jeder normalen Reisemaschine ist das total easy.
Wenn das alles ist, was die hier an "gefährlichen Tiefsandfeldern" zu bieten haben, dann ist das Babykram. Manchmal glaube ich, die Isländer übertreiben absichtlich, um Eindruck zu schinden.
Eine halbe Stunde später bekomme ich eine wunderbar Gelegenheit, über die Bedeutung der ersten Todsünde nachzudenken: Hochmut!
Am Rand der Piste steht ein nagelneues Schild mit dem Hinweis:
WARNING
Deep sand
Use 4WD! Do not stop
or meet traffic in sand
wait for your turn
Fehlt nur noch der Hinweis "Good luck!"
Dann mal los, denke ich und lasse die Kupplung kommen. Stehend, im zweiten Gang mit wenig Gas rolle ich an das erste Sandfeld heran. Eine tief ausgefahrene Spur aus Sand und Asche, weich wie schwarzes Mehl. Ich gebe Gas, aber nicht zu sehr. Die Beschleunigung muss bis zum Ende des Sandfelds reichen. Das Vorderrad schwimmt auf, ich bestimme bloß noch grob die Richtung. Jetzt hänge ich in der LKW-Spur, oh, oh, böse, ich komme ins Schleudern, gleich liegen wir auf der Seite. Ich drehe voll auf und die leichte Enduro schießt mit brüllendem Motor nach vorn, fängt sich, schlenkert, stabilisiert sich und dann sind wir durch. Der Boden wird für hundert Meter wieder fest. Ich bin nassgeschwitzt bis auf die Haut.
Der sicherste Weg im weichen Sand zu stürzen ist Gas weg zu nehmen. Der Vorderreifen gräbt sich ein, verzögert, der Lenker verkantet und man liegt fast zwangsläufig auf der Seite. Man muss gegen seine Instinkte handeln und Gas geben, wenn es brenzlig wird. Das fühlt sich total falsch an und man kriegt eine Heidenangst, aber es funktioniert.
Nach viereinhalb Stunden ist die Askja fast zum Greifen nah. An ihrem Fuß eine Handvoll winziger Hütten, die auf schwarzem Sand hell in der Sonne leuchten. Das ist Camp Dreki. Man kann dort zelten und es gibt Schlafsackplätze im Matratzenlager, aber vor allem gibt es Wasser und sie haben einen Lokus.
Hundert Meter vor dem Camp ist noch einmal eine Furt, aber die ist von hier noch nicht zu sehen. Dafür steht ein Toyota Hilux des Vatnajökull Ranger Service vor mir auf der Piste.
Sie hält ein Papier oder Schriftstück in der Hand und macht eine Handbewegung, dass ich anhalten soll. Ich nehme Gas weg und lasse die Honda vor ihr ausrollen: "It wasn't me. I didn't do it. It was not on purpose. I didn't know and I want to speak to a lawyer", gehe ich die Standardsätze meiner Patienten durch, damit ich den passenden parat habe, je nachdem, was mir gleich vorgeworfen wird...
zum nächsten Tag...
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Diesen Tag musste ich teilen in einen Vor- und einen Nachmittag. Sonst wäre ich niemals rechtzeitig fertig geworden. Am nächsten Sonntag erzähle ich euch, wie es weitergeht und was der Ranger Service wollte...