Am Geysir
Das erste Foto des Tages macht Claudia über die Webcam in Kerlingarfjöll. Während ich bei Kälte und Wind mein Zelt abbaue, sitzt sie zuhause bei Kaffee und Keksen und schaut genüsslich zu. Vielleicht auch beim Mittag, denn hier ist es zwei Stunden früher.
Claudia hatte mich gewarnt: "Blende die vielen Menschen einfach aus und sieh dir in Ruhe den Wasserfall an. Er ist wirklich sehenswert. Lass dich nicht stören und bring ein paar schöne Bilder mit."
Scharen von Touristen, die gerade herein wollen, ungeduldig zum Ausgang drängen, oder am Restaurant anstehen und mit in den Nacken gelegten Köpfen die Karte an der Wand studieren. Etwa ein Drittel Europäer, ein Drittel Amerikaner, ein Drittel Asiaten. Rest: Pieps und ich.
Ich bin fest entschlossen, etwas Negatives über den unglaublichen Trubel und die anderen Touristen zu sagen, auf die Art fühl ich mich überlegen, aber in dem Moment, als ich aus der matschigen Kälte des isländischen Hochlands in die wohlige Wärme des Centers komme und mich ein Duft von Kaffee und Gebäck umfängt, werde ich weich. Es ist ganz wunderbar hier. Vor allem warm und überdacht.
"That's 3.270 krona, please. Coffee goes with free refills."
"A great iclandic tradition that refill thing", sage ich betont lässig, um mir den Schock nicht anmerken zu lassen über fast 27 € für ein belegtes Brot, ein Stück Kuchen und eine noch unbestimmte Menge Filterkaffee.
(Anm. d. Red.: Preise bezogen auf den Kurs vom Aug. 2018.)
"Pah!" sage ich mir, während ich das Plastiktablett an einen Tisch trage. "Nur Angsthasen und Geizhälse gucken vorher auf die Karte." Dann hätte ich allerdings auch gesehen, dass der Kuchen nicht nur 10,50 € kostet, sondern auch noch 'Gluten free' ist. Was immer das bedeutet. Vermutlich irgendein geheimer Baumsteichlercode für: Schmeckt nicht, ist aber schweinemäßig gesund.
Ich setze mich mit Pieps an einen freien Platz und nehme mir das Panino vor. Ein flaches Brot heiß aus der Sandwichpresse, belegt mit Schinken und großzügig überbacken mit Schmelzkäse. Es ist erstaunlich lecker. Vielleicht nicht gerade 13-Euro-erstaunlich-lecker, aber immerhin.
Inzwischen sind wir satt, durchgewärmt und ich so voller Filterkaffee, dass es glucksende Geräusche gibt, wenn ich zu schnell gehe. Ein bisschen klingt es, als hätte ich Wasser in den Gummistiefeln.
Jetzt wollen wir uns den Wasserfall ansehen. Der Weg zum Ausgang führt durch den Souvenirshop. Ob in einem Kloster der Auvergne, oder an einem Wasserfall in Island, man muss immer durch den Souvenirshop.
Auf einem Tisch steht eine kleine Armada emaillierter Kaffeebecher mit Islandmotiven. So einen will ich! Den kann ich direkt auf meinen Kocher stellen und darin Kaffeewasser heiß machen. Dann spare ich den Topf.
Nach ewig unentschlossenem Abwägen entscheide ich mich für den mit dem Wikinger drauf. Nein, doch nicht. Ich will den mit der Islandkarte.
Nein stopp! Doch lieber den Weißen mit dem Stern und der Aufschrift 'Reykjavik - Iceland - Done that'.
Auf dem Weg zum Tresen sammele ich noch zwei Island Patches ein, die Claudia mir sicher auf die Jacke näht, wenn ich sie lieb darum bitte und mit Kaffee und Chokinis besteche. Glücklich wie immer, wenn ich etwas im Grunde Sinnloses gekauft habe, verstaue ich die Beute im Tankrucksack und mache mich auf zum Wasserfall.
Aldeyjarfoss ist frei, wild und gefährlich, während Gullfoss ein Tiger im Käfig ist, umgeben von Geländern, Treppen und Bohlenwegen, die den fotografierenden Touristen Schutz bieten vor der ungezähmten Natur.
Island fasziniert am meisten gerade zwischen den bekannten Attraktionen. Da wo nichts ist, außer der unendlichen Mondoberfläche, dem Nichts, der kargen Steinwüste, der erstarrten Lava und den brutalen Flüssen. Das stundenlange Fahren auf üblen Pisten von einem Horizont zum nächsten, immer mit der Unsicherheit, wie tief der nächste Fluss ist und ob man ihn furten kann. Das ist es, was ich nirgendwo sonst jemals erlebt habe und was Island in Europa so absolut einzigartig macht. Wenn bloß wir nicht wären, die vielen, viel zu vielen Touristen.
Auf dem Parkplatz komme ich mit einem Biker aus Bielefeld ins Gespräch, der, wie sich herausstellt, in meinem Alter, aber sonst sehr sympathisch ist. Er macht sich Sorgen wegen der Kjölur, aber meine frischen Eindrücke beruhigen ihn: Die 35 enthält keine Schwierigkeiten. Ohnehin kein Problem für die alte Yamaha XT. Selbst mit Schwierigkeiten.
Auf dem Parkplatz am Geysir steht eine einzelne Automatensäule mit Diesel und Super 95. Das erste Benzin, seit ich vor zwei Tagen Blönduos verlassen habe. Ich lasse den Tank bis zum Stehkragen vollaufen.
Ich will mich nicht lustig machen. Irgendwann kommt auch für mich die Zeit, wenn ich Busreisen mache, an fünf von sieben Tagen Crocs trage und dazu ultraleichte Siebenachtelhosen mit Gummizug.
Aber nicht heute!
Ich starte die Enduro und fahre weiter. Unsere Vorräte gehen zur Neige. Vor allem die Mozartkugeln. Ich muss einkaufen. Ein Mensch überlebt etwa sechs Wochen ohne Wasser, drei Tage ohne Fleisch, aber nur einen Abend im Zelt ohne Mozartkugeln.
Laugarvatn ist der erste Ort, durch den wir seit Tagen kommen und er wird für heute der Einzige bleiben. Die letzte Zählung ergab 177 Einwohner. Die MKWS, die Mozartkugelwahrscheinlichkeit, beträgt gleich Null. Wir können uns glücklich schätzen, wenn es da überhaupt einen Laden gibt.
Tatsächlich gib es sogar einen kleinen Supermarkt. Ein schraddeliger Laden, vollgestellt mit Kühltruhen und Regalen, aber immerhin ein Laden. Vermutlich ist es seine Lage am Golden Circle, die für genügend Kundschaft sorgt, in diesem Fall Pieps und ich.
Die Auswahl an Frischfleisch ist winzig, aber eine Sache haben sie: Lamm. Ich stöbere durch die Packungen und entscheide mich für einen Strang Lammfilet. Ich habe noch keine Idee, wie ich ihn gar kriegen soll, aber er sieht einfach zu verlockend aus.
Eine Truhe daneben hat Pieps den Gammelhai entdeckt, tiefgefroren und in winzige Töpfchen verpackt. Sie sieht mich fragend an. "I wouldn't recommend it", imitiere ich die Rangerin auf Sprengisandur, und um es deutlicher zu machen: "Auf keinen! Da ist vergammelter Stinkefisch drin." Pieps verliert umgehend jedes Interesse an dieser isländischsten aller isländischen Spezialitäten.
Mozartkugeln haben sie nicht. Stattdessen kaufe ich zwei Riegel einer isländischen Schokoladenfirma. Ein müder Ersatz, aber besser als nichts.
Heute schlagen wir das Zelt am Pingvallavatn auf. Die Leute kommen in die Gegend, um die Allmännerschlucht und die Silfra-Spalte zu besuchen, aber wir sind hier wegen des Campingplatzes.
Es steht nur ein weiteres Zelt auf dem Platz, ein Hilleberg Staika. Das Zelt für Island. Eine Frau wohnt darin. Allein. Sie ist mit dem Fahrrad unterwegs. Zwei allein reisende Damen mit Zelt. Eine auf dem Rad und eine mit der Enduro.
Was Zelte betrifft, kann ich nicht leugnen, dass ich mich systematisch nach oben geschlafen habe: Vom ALDI-Zelt für 29 Mark, über ein Vaude und ein Salewa hin zu einem Exped Orion Extreme für 650 €. Sollte ich das einmal satt haben, ist Hilleberg vom Versand fällig. Erst dann bin ich an der Spitze angekommen: Im Oval Office des Zeltcampings.
Der Regen hat vor Stunden aufgehört, aber am See ist es kalt und windig. Zeit fürs Abendessen. Ich schneide das Filet in Streifen und brate es in Olivenöl an. Heute bekomme ich nicht genug Hitze in die Pfanne, dabei ist das Gas voll aufgedreht. So wird das Fleisch niemals gar. Ich nehme den Kochtopf und stülpe ihn umgedreht über das Fleisch. Schon bald brutzelt es darunter verheißungsvoll.
Das Essen aus der eigenen Küche werde ich am meisten vermissen, wenn ich demnächst ‐ eventuell ‐ meine erste Reise ohne Campingausrüstung mache. Im Gegenzug handele ich uns dafür wohl ein gutes Frühstück ein. So oder so wird es ein interessantes Experiment werden.
Den Abend verbringen ich mit Pieps im Zelt bei Lesen und Schokolade. Ich weihe den neuen Becher ein, indem ich etwas Wasser hineinkippe und ihn direkt auf den Kocher stelle. Als das Wasser heiß ist, kippe ich eine Tüte Kaffeepulver hinein. Funktioniert prima und geht blitzschnell. Für Pieps habe ich drei Tütchen Kakaopulver dabei.
Es ist ruhig im Camp. Auch die Anderen haben sich früh in ihre Zelte zurückgezogen und liegen vermutlich ebenfalls im Bett, lesen, essen, schlafen, oder unterhalten sich.
Pieps ist über ihrem Pixiebuch eingeschlafen und mir fallen auch bald die Augen zu. Morgen liegen über 300 km vor uns. Die Verbindungsetappe in die Westfjorde.
Gute Nacht, Welt
zum nächsten Tag...
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Die Highlights auf der 35, Kjölur-Route, sind die Hütten in Hveravellir und Kerlingarfjöll. Besonders letztere ist eine Perle im Hochland, die viel zu schön ist, um dort nur eine Nacht zu bleiben. Die Kjölur ist einfach zu fahren. Rumpelig, aber ohne Furten und Sandfelder.
Morgen geht es in die Westfjorde. Sie liegen weit ab von allem anderen, aber ich bin sicher, dass der Umweg sich lohnt.