Námaskarð
Ich drehe den Zündschlüssel der Rally auf 'Ignition ON'. Die Benzinpumpe surrt, das Mäusekino spielt den bekannten Vorfilm und eine Sekunde später erwacht die Honda zum Leben. Brutal bollert der Titanauspuff in die kühle Morgenluft. Muss echt fies laut sein in der übernächtigten Jurte gleich nebenan. Sonntag, 07:58 Uhr. Die Rache des Kanalarbeiters.
Langsam schlendere ich ums Haus herum. Alle Vorhänge sind zugezogen. Man kann nicht sehen, was drinnen vorgeht. Als ich wieder am Eingang ankomme, ist die eine Gardine zurückgezogen. Auf dem Schild steht jetzt "09-20. Every Day!". Die Chinesen hocken vermutlich auf dem Teppich hinter der Tür und lachen sich kaputt.
Der glatte Asphalt der 85 erstreckt sich schnurgerade bis zum Horizont. Nach ein paar Kilometern ein erstes Zeichen menschlicher Zivilisation: Ein Schild kündigt an: 'Skulagardur Inn'. Ich biege ab und folge ihm bis zum Hotel. Ein großer schwarzer Hund kommt freudig auf mich zu.
Ich parke das Motorrad, als ein Junge vor die Tür tritt und mich begrüßt. Er spricht fließend Englisch, wie im Grunde jeder, den ich nördlich der dänischen Grenze getroffen habe.
Wir teilen die Begeisterung fürs Geländefahren, für alles was Stollenreifen, lange Federwege und wenig Gewicht hat, der 15-Jährige aus Island, der traurig ist, weil er noch nicht auf der Straße fahren darf, und die 56-jährige Tante aus Deutschland, die sich verzückt an ihre wilden Jahre erinnert. Seelenverwandte findet man an den erstaunlichsten Orten und manchmal gerade dann, wenn man am wenigsten damit rechnet.
Pieps wird ungeduldig und ich erkundige mich, ob wir im Hotel seiner Eltern ein Frühstück bekommen könnten. Ja, wir dürfen uns in das Buffet der Hotelgäste einkaufen. Es wird gerade aufgedeckt. Pieps und ich sind die Ersten, die übrigen Gäste schlafen noch.
Das Buffet ist mit Liebe aufgebaut, aber das Angebot ist nun, sagen wir: Isländisch. Das Highlight ist der Durchlauftoaster. Ein winziges Fließband läuft unablässig an einem Dickicht rot glühender Heizspiralen vorbei. Man braucht nur eine Scheibe Brot draufzulegen und zu warten, bis es am anderen Ende fertig geröstet vom Fließband plumpst.
Als ich endlich keinen Kaffee, kein geröstetes Brot vom Band und Pieps keinen einzigen Löffel 'Körschmamilade' mehr runterkriegt, ziehe ich die Jacke an und gehe zum Bezahlen an die Rezeption.
"Is it ok to take a Picture?", fragt der Hausherr höflich, beinahe schüchtern. Fotografieren? Mich? Das ist, als wenn man einen Politiker fragt, ob er vor laufender Kamera ein Baby küssen will. Natürlich will ich!
Er macht ein Foto und erklärt, dass er nie zuvor eine alleinreisende Frau mit Zelt und Motorrad gesehen habe. Über diese Tatsache bin ich mindestens so erstaunt wie er.
Man darf 90 fahren und damit kommt man in Island unglaublich schnell voran, denn einmal in den 6. Gang geschaltet, gibt es endlos keinen Grund mehr herunterzuschalten, keine Ampeln, keine Kreuzungen, kein Kreisverkehr, keine engen Kurven. Nur zum Fotografieren halte ich ab und zu mit laufendem Motor am Straßenrand an und knipse ein paar Aufnahmen.
Wichtiger ist, dass wir uns in Husavik etwas zu Essen besorgen, denn der 2200 Einwohner Ort wird heute die größte Stadt auf unserem Weg bleiben. Der nächste Ort, Reykjalid, ist nämlich auch kein Anwärter für den Club der Millionenstädte. Er hat 166 Bewohner.
Wir haben Glück: Es ist Sonntag, aber der NETTO-Markt an der 85 ist geöffnet. Ich kaufe etwas Butter, ein Brot, ein Paket Würstchen und zwei Päckchen Bacon zum Selberwickeln in Memoriam Berner Würstl.
Ich verstaue den Einkauf im Zeltsack und fahre weiter zum Myvatn, dem Mückensee. Wikivoyage versteigt sich zu der Behauptung, "der Myvatn [gelte] nach Reykjavík als zweitwichtigstes Touristenziel Islands." Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber die Gegend ist zumindest sehr touristisch. Zu jedem Zeitpunkt habe ich entweder einen Reisebus im Rückspiegel, fahre hinter einem, oder es kommt einer von vorn. Manchmal alles drei.
Kurz bevor die Ringstraße zur Passhöhe steigt, fahre ich auf der 1 an einem kochenden See vorbei. Das türkise Wasser dampft und blubbert. Selbst ohne das gelbe Warnschild 'DANGER - Hot spots under water surface. Bathing strictly forbidden, wäre ich nicht auf die Idee gekommen, hier zu baden.
Als ich den Pass Namaskard überquere, öffnet sich der Blick ins Land und vor mir liegen die Schwefelfelder, kochenden Schlammtöpfe und Fumarolen von Hverarönd. Pieps steckt neugierig die Nase aus dem Tankrucksack. Das wollen wir uns ansehen.
Deutsche dagegen sind die Krätze. Du hast immer einen Oberlehrer dabei, der es noch einen Tick besser weiß als der Reiseleiter und das ums Verrecken auch kundtun muss. Amerikaner dagegen sind ein fröhliches und dankbares Publikum. Sie sind freundlich und unterhalten sich gern. Man muss sie einfach mögen. Auf eine Art jedenfalls.
Von den Briten aus dem Bus nebenan sind sie schon anhand der Sprache zu unterscheiden: "Yeah. This is great. But have you been to Yellowstone? THAT is really huge!" anstatt ein abgestandenes: "Lovely, my dear, isn't it?"
Und dann sind da natürlich wir, die Deutschen, die klugshicerish alles noch etwas genauer wissen: "Entschuldigen Sie bitte, das ist so nicht ganz korrekt. Es ist vielmehr so, dass die Merowinger erst gegen Ende des fünften Jahrhunderts..."
Wir sind die, die alles exakt beobachten, penibel notieren und über alles und jeden ein Urteil fällen, das wir nur schwer für uns behalten können. Typen wie ich eben. Uns lieb ich auch. Auf eine Art...
Die Farben der Landschaft verblüffen mich stets aufs Neue. Wie kann es soviele unterschiedliche Töne von braun, rot, gelb und beige geben, die alle zusammen den schönsten Akkord für die Augen spielen?
Namaskard ist anders. Burgen hab ich viele gesehen, hübsch waren sie alle, aber sowas wie hier sehe, rieche und erlebe ich zum ersten Mal. Der Boden ist warm, klingt hohl, in Erdlöchern blubbert Schlamm, stinkender Dampf düst zwischen Steinen hervor, Rinnsale mit kochendem Wasser durchziehen die Landschaft. Der Planet ist an dieser Stelle nicht ganz zu Ende gebaut, das Dach ist noch offen. Doch, das hier lohnt sich und die Ringstraße führt mitten durch.
Irgendwann habe ich genug gesehen, genug Fotos von Schlamm, Dampf und Blubber gemacht und auch Pieps wird allmählich quengelig: "Nur wann gieb's einklich ma englich Aahmbrot?!"
Die kleine Maus hat Recht. Ich starte das Motorrad und biege auf die Ringstraße ein. Es ist erstaunlich, in welch perfektem Zustand die isländischen Straßen sind.
Die letzten Kilometer führen von der Ringstraße weg über einen Feldweg an Bauernhöfen vorbei. Die Piste endet bei einer Farm auf dem Gelände vom Camping and Guesthouse Lifsmotun.
"Oh ja, sehr gerne." Ich schieße noch einmal 1600 Kronen nach für das Frühstück und freu mich über das Angebot. Morgen nämlich beginnt der längste und einsamste Teil der Hochlanddurchquerung. Dieses Frühstück wird für einige Tage das letzte hingestellte Essen sein für Pieps und mich.
Wir verschwinden im Zelt und machen es uns gemütlich. Während Pieps grübelt, wie sich um jede Wurst möglichst viel Speck wickeln lässt, koche ich mir einen Espresso. Der Trick ist, nur soviel Wasser heiß zu machen, wie man für eine Tasse braucht. Dann geht es blitzschnell und verbraucht kaum Gas.
Morgen wartet wieder ein großes Abenteuer auf uns: Sprengisandur. Die größte Wüste Europas...
zum nächsten Tag...
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Welch ein schöner Reisetag. Das Wetter in Island ist ganz erstaunlich. Bisher hatte wir mehr Sonne und weniger Regen, als auf vielen anderen Reisen. Möge es so bleiben...