Sprengisandur
Wenn ich gefragt werde, weshalb ich überhaupt nach Island gefahren bin und was das eigentliche Ziel der Reise ist, dann lautet die Antwort mit einem Wort: Sprengisandur. Ich will die größte Wüste Europas durchqueren. Menschen setzen sich die unsinnigsten Ziele und meines heißt Sprengi.
Die Strecke ist zu lang und zu anstrengend, um sie an einem Tag im Parforceritt abzureiten. Deshalb werde ich auf der Hälfte einmal Station machen. Mitten im Nirgendwo liegt die Hütte Nýidalur. Dort gibt es eine Rangerstation und genügend Gras, um ein Zelt darauf zu stellen.
Es gibt aber eine Schwierigkeit: Nýidalur liegt zwischen den drei tiefsten Furten auf der gesamten Strecke. Die siebzehn übrigen Bäche, die quer über die Piste fließen, nicht eingerechnet.
Das Motorrad steht reisefertig auf der Wiese. Ich fange Pieps ein und gehe mit ihr hinüber ins Guesthouse. Der Wirt erwartet uns an der Haustür. Er zeigt uns die Küche, wo ein einfaches Buffet aufgebaut ist: Brot, Butter, Marmelade, Nutella, Erdnussbutter, Wurst, Käse, Frühstücksflocken und Obst. Gegessen wird nebenan im Wohnzimmer. Ein warmer Raum mit zwei derben Holztischen, einer Couch und vielen Büchern.
Ich nehme mir Kaffee mit zwei Scheiben Toast und setze mich. Die Heizung knistert, ein junges Paar unterhält sich im Flüsterton. Ein ruhiger, harmonischer Morgen. Bis, ja bis zu dem Moment, als eine gewisse Maus hereinstürmt und mit vorwurfsvoller Stimme kräht: "Nur ham die einklich in echt schon keine Äädnussbotter mehr?"
Unter blumenreichen Entschuldigungen verabschiede ich mich und ziehe die Gummistiefel an. So starten wir drei Scheiben Toast eher, als gedacht in den Tag. Wir rumpeln über den Feldweg zurück nach Laugar und biegen im Dorf wieder auf die Ringstraße ein.
Hier am Besucherzentrum Fossholl gibt es das letzte Benzin vor Sprengi, eine einzelne freistehende Zapfsäule mit Diesel und Superbenzin. Im Grunde bin ich deshalb hier und nicht wegen des Wasserfalls.
Es beginnt zu regnen. Ich stecke die gute Kamera unter die Jacke und wandere zurück. Bevor ich nach Sprengi starte, ziehe ich mich komplett regen- und flusswasserdicht an, stecke die Hose in die Gummistiefel, ziehe die Regenhose drüber und dichte sie mit Klettbändern ab. Das Motorrad vollgetankt, die Kette gesprüht, Pieps im Tankrucksack, Svenja wasserdicht verpackt: Fertig für Sprengi.
Nach tausend Metern auf der Ringstraße geht es links zur F26. Die Zufahrt führt durch matschige Pfützen dicht am Fluss entlang. Ich halte die Honda im höchsten Gang bei 70. Das Benzin ist streng rationiert.
Achtunddreißig Kilometer nachdem ich von der Ringstraße abgebogen bin, beginnt die F26. Es regnet und ständig ist Wasser auf der Linse, aber ich mache trotzdem ein paar Bilder, auch wenn sie aussehen, wie mit Weichzeichner gemacht.
Auf großen Tafeln stehen die wichtigsten Informationen und eine Karte verzeichnet Furten, Camps und Rangerstationen. Es wird noch einmal darauf hingewiesen, auf keinen Fall die markierte Piste zu verlassen und dass man ab hier nur mit Geländewagen weiterfahren darf. Eine Skizze zeigt, welcher Typ Allradler damit gemeint ist. Keine SUV, das sind Geländewagen in Strumpfhosen.
Mit gemischten Gefühlen steige ich aufs Motorrad und fahre los. Mir gibt der Gedanke Mut, dass ich jederzeit umkehren kann, falls es zu doll wird. Das Benzin wird selbst von der Furt vor Nyidalur noch zurück bis Godafoss reichen. Dann übernachte ich eben wieder im Camp Lifsmotun und Pieps massakriert ein weiteres Glas Barney's Best.
Der Weg geht fast sofort über in eine steinige Buckelpiste. Die Schlaglöcher sind bloß nervig, aber die scharfkantigen Lavabrocken, die aus dem Boden ragen sind gefährlich. Langsam und sorgfältig zirkele ich um jedes Hindernis herum. Trotzdem fühlt es sich an wie der Ritt auf einem Presslufthammer.
Der Aldeyarfoss ist zusammen mit Dettifoss der bisher beeindruckendste Wasserfall, den ich gesehen habe. Eine Szenerie, wie aus einem Urzeitfilm und das garstige Wetter verstärkt die Stimmung noch.
Nach Aldeyarfoss steigt die Piste an. In einer Höhe von 500 Metern fahre ich in eine Nebelwand und als ich bei 700 Metern wieder an die klare Luft komme, liegt die Hochebene Sprengisandur vor mir, eine graue Wüste aus Asche und erodierter Lava.
Es ist gar nicht so selten, dass ein zerfetzter Reifen am Rand der Piste liegt. Manche der Lavabrocken sind wahre Reifenkiller und die Geländewagen fahren alle schneller als ich. Zweimal lasse ich eine Gruppe vorbei. Sie bedanken sich mit einem Hupen und heizen in einer Staubwolke davon. Mit den Zweispurfahrzeugen werden sie es bei dem Tempo schwer haben, sämtlichen Hindernissen auszuweichen, aber jeder ist hier seines eigenen Glückes Schmied.
Die meiste Zeit fahre ich nicht schneller als 40 km/h. Das 'Sandur' in Sprengisandur klingt nach Sand und das bedeutet es wohl auch, denn von Zeit zu Zeit gibt es kurze Sandfelder, die mit Power gut zu bewältigen sind. Noch bevor es richtig brenzlig wird, sind sie schon vorbei. Kein Vergleich zu den Deep Sand Fields auf der F910 zur Askja.
Von Zeit zu Zeit greife ich hinter mich und taste das Gepäck ab. Alles noch da? Nein. Die Wasserflasche fehlt: "Mann über Bord!"
Ich drehe um, wobei ich sorgsam darauf achte, den Rand der Piste nicht zu verletzen, und heize zurück. Nach zwei Kilometern liegt die Flasche harmlos im Sand und tut so, als sei nichts gewesen.
Von vorne kommt ein Superjeep, ein Toyota Landcruiser auf Kortison, mit mächtigen Reifen. Wenn der die Furt geschafft hat ... dann sagt das noch gar nichts. Lieber wäre mir ein Suzuki Jimny mit kaum feuchten Reifen.
Schon aus der Ferne sehe ich Autos am Ufer stehen, einen Mazda CX3, einen BMW X1 und drüben einen kleineren SUV, den ich nicht erkennen kann. Selbst wenn es keine Mietwagen wären, die hier nicht fahren dürfen, entspricht die Sprengisandur ganz sicher nicht dem Beuteschema solcher SUV in Strumpfhosen. Die haben hier alle Drei nichts zu suchen.
Niemand ist verletzt, sie sind bloß nass und haben einen riesen Schrecken bekommen. Die Familie aus Holland hatte Glück. In derselben Situation wird fünf Wochen später eine junge Amerikanerin auf Hochzeitsreise ertrinken, nachdem ihr Mann den Wagen im Fluss versenkt.
Dabei stelle ich mir ernsthaft die Frage, ob eine Mutter auf die Idee käme, ein Auto in diesen reißenden Fluss zu steuern und Mann und Kinder in solche Gefahr zu bringen: "Ach was, Liebling. Das schaffen wir. Kein Problem. Pass mal gut auf, du kleiner Angsthase!"
Den anderen Mietwagen, einen Mazda CX3, hat inzwischen jeder Mut verlassen. Er dreht um und macht sich aus dem Staub. Eine clevere Entscheidung, denn von der anderen Seite des Flusses nähert sich ein Toyota Hilux der Park Ranger. Der Pickup saugt die Luft über einen Schnorchel in Dachhöhe an und auch sonst wirkt er ziemlich fähig.
Ich selbst ziehe gerade die Klettbänder um die Watstiefel nach. Sicher, der Fluss ist reißend, aber seine einzelnen Arme sind eher schmal und ich muss mich bloß von Sandbank zu Sandbank retten. Mit genügend Power könnte ich es vielleicht schaffen.
In einem Anflug von Wahnsinn will ich gerade in den Fluss steigen, als der Toyota an die Wasserkante rollt und in den Fluss fährt. Die Vorderachse knallt sofort einen halben Meter runter. Die steile Kante habe ich unter dem dreckigen Wasser gar nicht gesehen. Mit Kraft quert der mächtige Pickup den reißenden Fluss und wie um mir jeden Mut zu nehmen, dreht er noch eine weitere Runde und zeigt, wie trügerisch das Flussbett ist.
Selbst auf den fetten Ballonreifen hat er Schwierigkeiten, sich gegen die reißende Strömung das steile Ufer hochzuwühlen. An einer Stelle beginne ich kurz zu zweifeln und glaube, das ich es vielleicht doch schaffen könnte, aber dann siegt die Vernunft: No Way! Nicht einmal zu Fuß wäre ich heil auf die andere Seite gekommen.
Inzwischen hat der Park Ranger den Hilux abgestellt. Es ist eine Rangerin! Eine toughe junge Frau mit raspelkurzen Haaren, stämmiger Figur und einer 'Leg-dich-nicht-mit-mir-an' Miene. Ihre ganze Körpersprache sagt, dass sie nicht in Partylaune ist.
Sie fragt, ob jemand verletzt sei, oder sonst Hilfe braucht, und kümmert sich danach um den BMW. Von der Ladefläche des Pickups holt sie eine Tasche mit Werkzeug. Nicht das glänzend polierte Zeug von Hazet und Gedore, das unbenutzt zuhause in meinem Werkzeugkasten schlummert, sondern richtiges Werkzeug, dem man ansieht, dass es in Gebrauch ist.
Sie öffnet den Luftfilterkasten und nimmt den Einsatz heraus. Ein Schwall Wasser ergießt sich daraus. Ich bewundere ihre Zurückhaltung, was Kommentare über unbedarfte Touristen angeht, die sie vermutlich jeden Tag aus dem Fluss ziehen muss. Ihre Miene aber spricht Bände.
Der Holländer steht mit betretener Miene daneben. Er tut mir leid. Das ist kein übermütiger Rowdy, sondern einfach ein Familienvater, der seinen Leuten im Urlaub einmal etwas Besonderes bieten wollte und jetzt ist das so sehr schief gegangen.
Genau für diesen Fall, dass ich die Furt nicht schaffe, haben Claudia und ich einen perfekten Plan-B ausgearbeitet. Der gesamte Reiseverlauf ändert sich, wenn ich Island auf Sprengi nicht von Nord nach Süd durchqueren kann. Dabei war ich zuhause bis zuletzt der Ansicht: "Ach was, lass mal, das schaffe ich schon irgendwie", und habe den aufwendigen zweiten Plan nur Claudia zu Liebe gemacht, damit sie ruhig schlafen kann, aber sie hat solange auf mich eingeredet, bis wir uns die doppelte Arbeit gemacht haben und jetzt bin ich dankbar dafür.
Ich werde ein Stück zurückfahren und dann abbiegen nach Laugafell, einer weiteren Hütte im Hochland. Es gibt zwei Wege dorthin, einen direkten mit drei Furten und einen längeren ohne Furten. Ich frage die Rangerin nach dem direkten Weg und ob ich die Furten mit dem Motorrad schaffen kann. "I wouldn't recommend it. Take the northern Track", antwortet sie mit einem leicht ironischen Lächeln.
Es wird Zeit, dass ich starte, denn der Tag ist noch lange nicht zu Ende. Ich öffne das Garmin und tausche die MicroSD-Karte gegen die mit dem fetten B darauf.
Mit Bedauern fahre ich an der ersten Abfahrt nach Laugafell vorbei und düse auf der sandigen Piste weiter, bis ich den nördlichen Abzweiger auf die F881 erwische.
Etwa ein Dutzend Geländewagen steht auf dem Platz vor der Rangerhütte. Einige haben ihr Dachzelt aufgestellt. Das pochende Rauschen einer Standheizung ist zu hören.
Ich zahle 2.000 Kronen für den Zeltplatz und beeile mich, das Lager aufzustellen. Inwischen hat der Wind zugelegt und sich zu einem handfesten Sturm ausgewachsen. Es ist ein Fehler, bei diesem Wetter das Zelt aufzubauen, aber ich habe solch einen Tunnelblick hin zu meinem Schlafsack, dass ich gar nicht auf die Idee komme, nach einem der zwanzig Schlafplätze im Matratzenlager zu fragen.
Ich nagele das Zelt rundherum am Boden fest, setze sämtliche Sturmleinen und sichere sie mit doppelten Heringen. Auf der Luvseite lege ich Felsbrocken auf die Unterkante, obwohl das gefährlich für den zarten Stoff ist, aber der Wind darf auf keinen Fall unters Zelt fassen.
Pieps nimmt die Situation, wie Kinder sowas nehmen: Als aufregendes Abenteuer. Die Gefahr erkennt sie nicht, aber mir ist ziemlich mulmig, ob das Zelt diesem Sturm gewachsen ist. Andererseits hat das Exped Orion Extreme im Outdoor Test nur Bestnoten erhalten, ist absolut wasserdicht und gilt als perfektes Sturmzelt.
zum nächsten Tag...
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Mein Ziel, die größte Wüste Europas allein auf der Enduro zu durchqueren, habe ich leider verfehlt, gewogen und für zu leicht befunden. Trotzdem war es ein unvergessliches Abenteuer. Von 206 Kilometern bloß sechzehn auf der Straße. Asphalt ist auf Island ein seltener Vogel.